Vierter Artikel. In den tugendhaften Menschen findet sich keine Verschämtheit.
a) Dies scheint doch der Fall zu sein. Denn: I. Wer in der Bosheit eine hohe Stufe einnimmt, errötet nicht, nach Jerem. 3.: „Die Stirne einer feilen Dirne ist dir geworden: du willst nicht erröten.“ Also hat das Gegenteil, die Vollendung in der Tugend, das dem Entgegengesetzte zur Folge: ein erhöhtes Erröten nämlich. II. „Die Menschen erröten nicht nur wegen begangener Sünden, sondern auch wegen Anzeichen von Sünden.“ (2 Rhet. 6.) Letztere finden sich aber auch in den tugendhaften. III. Die Verschämtheit ist die Furcht vor Unehre. Auch tugendhafte Menschen aber werden verleumdet und kommen so in Unehre oder Schande. IV. Die Verschämtheit ist ein Teil der Mäßigkeit. Der Teil aber ist da, wo das Ganze ist. Da nun die tugendhaften mäßig sind, so findet sich in ihnen auch die Verschämtheit. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (4 Ethic. ult.): „Der tugendhafte hat keine Verschämtheit.“
b) Ich antworte, die Verschämtheit sei Furcht vor Schändlichem. Daß nun ein Übel nicht gefürchtet wird, kommt einmal daher, daß es für kein Übel gehalten wird; und dann daher, daß es nicht als schwer zu vermeiden gilt. Demnach also schämen sich nicht 1. die im Schändlichen durchaus begrabenen, denn sie halten dasselbe nicht mehr für ein Übel, sondern rühmen sich vielmehr dessen; — 2. die Greise und die tugendhaften; denn sie erfassen das Schändliche nicht als etwas ihnen Mögliches oder als etwas schwer zu Vermeidendes; jedoch sind sie in einer solchen innerlichen Verfassung, daß, wenn etwas Schändliches in ihnen wirklich sich fände, sie sich auf Grund dessen schämen würden.
c) I. Die Ursache ist verschieden, auf Grund deren weder die sehr Guten noch die sehr Bösen sich schämen. Die da in der Mitte stehen haben Verschämtheit, weil sie das Gute lieben, jedoch nicht gänzlich frei vom Bösen sind. II. „Der tugendhafte muß nicht nur das thatsächlich Böse meiden, sondern auch das, was vor den Menschen als ein Übel gilt.“ (4 Ethhic. ult.) Und 1. Thess. 5.: „Von allem Scheine des Bösen haltet euch ferne.“ III. Verleumdungen und dergleichen Schmach verachtet der tugendhafte, weil er überzeugt ist, sie nicht verdient zu haben; und deshalb schämt er sich dessen nicht viel. Die ersten, der Vernunft zuvorkommenden Bewegungen der Scham kann er jedoch haben; wie auch diejenigen, welche den anderen Leidenschaften entsprechen. IV. Die Verschämtheit ist nicht ein zum Wesen der Mäßigkeit gehöriger Teil, sondern verhält sich nur vorbereitend. Deshalb sagt Ambrosius (1. de offic. 43.): „Die Verschämtheit lege die ersten Fundamente der Mäßigkeit, weil sie Schrecken einflößt vor dem Schändlichen.“
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