Zweiter Artikel. Die Nüchternheit an sich ist eine specielle Tugend.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Die Abstinenz beschäftigt sich mit Speise und Trank. Für die Speise aber giebt es keine besondere Tugend; also auch nicht für den Trank. II. Die Abstinenz und die Gaumenlust berücksichtigen die Ergötzungen des Tastsinnes, insoweit derselbe die Nahrung empfindet. Speise und Trank aber dienen gleichmäßig zur Nahrung; denn das sinnbegabte Wesen bedarf zugleich des Trockenen und des Feuchten. Also ist die Nüchternheit als Richtschnur für den Trank keine eigene Tugend. III. Wie mit Bezug auf die Nahrung Speise und Trank im allgemeinen unterschieden, so sind dies auch verschiedene Arten von Speisen untereinander und ebenso verschiedene Arten von Getränken untereinander. Wäre also die Nüchternheit eine besondere Tugend, so müßte für jede verschiedene Art Speise und für jede verschiedene Art Getränk eine eigene Tugend sich finden; — was unzulässig ist. Auf der anderen Seite betrachtet Macrobius die Nüchternheit als eine besondere Tugend.
b) Ich antworte, die moralische Tugend solle das vernunftgemäße Gute gegen Hindernisse festhalten. Wo also ein besonderes Hindernis für die Einwirkung der Vernunft sich findet, da bedarf es einer besonderen Tugend zu dessen Entfernung. Nun hat das berauschende Getränk eine besondere Art und Weise, den Gebrauch der Vernunft zu hindern; insoweit es durch seine Ausdünstungen das Gehirn verwirrt. Zur Entfernung dieses Hindernisses also bedarf es einer eigenen Tugend.
c) I. Speise und Trank haben eine gemeinsame Art, den Einfluß der Vernunft zu hindern, insoweit sie infolge ungeregelten Ergötzens die Vernunft vernachlässigen; und mit Bezug darauf besteht die eine einige Tugend der Abstinenz. Insbesondere aber hindert noch in eigener Weise das Getränk, welches berauscht; und dafür ist die Nüchternheit. II. Nicht weil Speise und Trank nähren, besteht für sie die Richtschnur der Abstinenz, sondern weil sie die Vernunft hindern. Also bedarf die verschiedenartige Nährkraft in den Speisen und Getränken keiner besonderen Verschiedenheit in den Tugenden. III. In allen berauschenden Getränken besteht der nämliche Gesichtspunkt, daß sie durch diese ihre Eigenschaft den Gebrauch der Vernunft hindern.
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