Erster Artikel. Gegenstand der Nüchternheit ist das Getränk.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Paulus bezieht Röm. 12, 3. das Nüchternsein auf die Weisheit. II. Sap. 8, 7. steht Nüchternheit für Mäßigkeit, die nicht allein mit dem Tranke sich beschäftigt. III. Nüchternheit scheint zu bedeuten: Maßhalten. Das ist aber bei allem unserem Thun erfordert, nach Tit. 2.: „Nüchtern und gerecht und fromm laßt uns leben in dieser Welt;“ und nach I.Tim. 2.: „Die Frauen sollen sich schmücken mit Scham und Nüchternheit.“ Also beschäftigt sich die Nüchternheit nicht speciell mit dem Getränke. Auf der anderen Seite heißt es Ekkli. 31.: „Wein mit Nüchternheit getrunken ist billiges Leben für die Menschen; trinke mäßig von ihm und du wirst nüchtern sein.“
b) Ich antworte; Tugenden, welche ihre Namen von einer allgemeinen Eigenheit aller Tugenden entlehnen, sind jenem Gegenstande in besonderer Weise zugewendet, bei welchem es im höchsten Grade schwer und sehr gut ist, dieser allgemeinen Eigenheit zu entsprechen; wie die Stärke zum Gegenstande hat die Todesgefahren und die Mäßigkeit die größten Ergötzungen, jene nämlich des Tastsinnes. „Nüchtern“ aber im allgemeinen wird jemand genannt, der seine kalte Vernunft immer behält, wie wenn ihn die Hitze des Tages nicht beeinflußte, sondern immer die Frische der Nacht ihn begleitete. Am meisten aber wird das ruhige kalte Nachdenken und Urteilen beeinflußt vom ungeregelten Trinken, so wie dieses letztere auch, wenn darin Maß gehalten wird, im höchsten Grade nützlich ist. Mehr schadet also dem Gebrauche der Vernunft das Übermaß im Trinken, wie das im Essen. Deshalb heißt es Ekkli. 31.: „Gesundheit des Leibes und der Seele ein mäßiger Trunk. Im Übermaße getrunkener Wein verursacht Aufregung,. Zorn und viel Unglück.“ Und deshalb beschäftigt sich die Nüchternheit zumal mit dem Getränke; nicht mit jedem zwar, sondern mit solchem Getränke, welches durch seine Ausdünstungen geeignet ist, den Kopf zu verwirren, wie z. B. es beim Wein der Fall ist und bei allem, was trunken macht. Allgemein angewandt kann Nüchternheit aber auch von dem Gegenstande jeder anderen Tugend gebraucht werden, wie der Stärke und der Mäßigkeit; sie bedeutet dann die kalt urteilende, scharf messende Vernunft.
c) I. Wie der Wein körperlich berauscht, so berauscht die Betrachtung der Weisheit geistigerweise, indem sie durch geistiges Ergötzen den Geist anlockt. So sagt ja der Psalm 22: „Mein berauschender Kelch, wie herrlich ist er!“ Und danach gebraucht man im übertragenen Sinne Nüchternheit auch mit Bezug auf die Weisheit. II. Was auch immer zur Mäßigkeit gehört, ist für das gegenwärtige Leben notwendig und schadet, wenn es übermäßig genossen wird. In allem dem also muß man das kalte Urteil der Vernunft anwenden, was die Aufgabe der Nüchternheit ist; und deshalb steht Nüchternheit manchmal für Mäßigkeit. Weil aber das Übermaß im Trinken dem Urteile der Vernunft am meisten schadet, deshalb ist der besondere Gegenstand der Nüchternheit das Getränk. III. „Nüchternheit“ sagt man in dem, wo Maßhalten in besonders hohem Grade erfordert ist.
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