Vierter Artikel Die Schamhaftigkeit gehört im besonderen Sinne zur Keuschheit.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Augustin (1. de civ. Dei 18.) bezeichnet sie als eine eigene Tugend der Seele. II. Die Schamhaftigkeit scheint dasselbe zu sein wie die Verschämt heit. Diese aber bezieht sich auf eine schändliche Thätigkeit, welche in jeder Sünde sich finden kann. III. 3 Ethtic. 12. heißt es: „Alle Unmäßigkeit im allgemeinen ist im höchsten Grade abscheulich.“ Der Schamhaftigkeit aber steht es an, das Abscheuliche zu fliehen. Also gehört sie zu allen Tugenden der Mäßigkeit und nicht einzig zur Keuschheit. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de persev. 20.): „Man muß die Schamhaftigkeit preisen, damit jener, der Ohren hat zu hören, mit den Zeugungsgliedern nichts Unerlaubtes thue.“
b) Ich antworte, die Schamhaftigkeit richte sich auf Alles, worüber die Menschen im höchsten Grade sich schämen. Im höchsten Grade aber schämen sich die Menschen über die geschlechtlichen Tätigkeiten, (Aug. 14. de civ. Dei 16.) Denn selbst das eheliche Zusammenleben, welches durch die Ehrbarkeit der Ehe geziert worden, ist nicht frei davon, Gegenstand der Scham zu sein. Dies kommt daher, weil die Bewegungen der entsprechenden Glieder nicht wie die der anderen Glieder dem Befehle der Vernunft unterliegen. Es schämt sich aber der Mensch nicht nur der geschlechtlichen Verbindung selber, sondern, nach Aristoteles (2 Rhet. 6.), auch aller beliebigen Zeichen derselben. Und deshalb hat die Schamhaftigkeit zum Gegenstande im eigentlichen Sinne das Geschlechtliche; und zwar vorzugsweise die Zeichen desselben, wie schamlose Blicke, Küsse u. dgl. Denn Derartiges pflegt in höherem Grade wahrgenommen zu werden, während die Keuschheit mehr die geschlechtliche Verbindung selber regelt. Und danach gehört die Schamhaftigkeit zur Keuschheit; nicht als eine von ihr verschiedene Tugend, sondern als Ausdruck eines gewissen Umstandes der Keuschheit. Bisweilen aber gebraucht man das Eine für das Andere.
c) I. Augustin nimmt da Schamhaftigkeit für Keuschheit. II. Die Laster der Unmäßigkeit besitzen eine besondere, ihnen allein eigene Unanständigkeit. III. Unter den Lastern der Unmäßigkeit ist abscheulich im höchsten Grade die Unkeuschheit, sowohl wegen der Unbotmäßigkeit der Zeugungsglieder als auch weil dadurch die Vernunft ihrer Thätigkeit vollständig verlustig geht.
