Dritter Artikel. Die Keuschheit ist eine von der Abstinenz verschiedene Tugend.
a) Dies wird geleugnet. Denn: I. Speise und Geschlechtliches gehören dem Tastsinne an, also ein und derselben „Art“, was den Gegenstand betrifft. Somit ist da bloß eine einzige Tugend. II. 3 Ethic. ult. werden alle Laster der Unmäßigkeit Kindersünden genannt, denen strenge Zucht oder Reinigung entgegentreten muß. Von da her aber hat die Reinheit ihren Namen. Da also die Abstinenz Unmäßigkeitssünden zügelt, so ist Reinheit eben nur wieder Abstinenz. III. Die Ergötzungen der anderen Sinne sind Gegenstand der Mäßigkeit, insoweit sie auf den Tastsinn sich beziehen. Die Ergötzungen des Tastsinnes betreffs der Speisen aber haben zum Zwecke die geschlechtlichen Ergötzungen, die Gegenstand der Keuschheit sind, wie Hieronymus (ep. 147.) sagt: „Der Bauch und die Zeugungsglieder sind einander sehr nahe, auf daß man daraus verstehe, wie nahe sich die entsprechenden Laster stehen.“ Also ist Abstinenz Keuschheit. Auf der anderen Seite zählt Paulus (2. Kor. 6.) die Keuschheit neben den Fasten auf, welche zur Abstinenz gehören.
b) Ich antworte, wo verschiedene maßgebende Gesichtspunkte für das Ergötzen des Tastsinnes bestehen, da seien verschiedene der Mäßigkeit untergeordnete Tugenden. Die Ergötzlichkeiten nun richten sich nach den Thätigkeiten, deren Vollendung sie sind. Andere Thätigkeiten aber sind es, die sich mit dem Gebrauche der Speisen, als der Erhaltung des einzelnenMenschen dienend, beschäftigen; und andere, die auf das Geschlechtliche, die Voraussetzung für das Bestehen der Gattung, sich richten. Also ist die Keuschheit eine von der Abstinenz verschiedene Tugend.
c) I. Die Mäßigkeit richtet sich nicht in erster Linie auf die Ergötzungen des Tastsinnes, soweit es auf das Urteil des genannten Sinnes über das demselben Zugängliche ankommt, welches Urteil allerdings für alles Diesbezügliche das nämliche ist; — sondern vielmehr soweit es auf den Gebrauch des zu Betastenden ankommt, welcher Gebrauch ein verschiedener ist gegenüber den Speisen und Getränken und gegenüber dem Geschlechtlichen. Also sind da verschiedene Tugenden nötig. II. Die geschlechtlichen Ergötzungen sind heftiger und für die Vernunft erdrückender, wie die an Speise und Trank. Sie bedürfen deshalb eines eigenen, strammeren Zügels. Denn wird ihnen zugestimmt, so wächst weit mehr die Kraft der Begierde und wird niedergeworfen die Gewalt der Vernunft. Deshalb heißt es bei Augustin (Soliloq. 1, 10.): „Nichts wirft nach meiner Meinung in höherem Grade den männlichen Geist heraus aus seiner festen Burg wie weibliche Reize und jene Berührung der Körper, ohne welche die Verbindung mit der Gattin nicht möglich ist.“ III. Die Ergötzlichkeiten der anderen Sinne gehören nicht zur Erhaltung der Natur, außer insoweit sie zum Tastsinne in Beziehung stehen. Und deshalb ist mit Rücksicht darauf keine andere Tugend vorhanden. Die Ergötzlichkeiten der Speisen aber hat wohl in etwa Beziehung zum Geschlechtlichen, jedoch ist ihr besonderer Zweck die Erhaltung der menschlichen Natur; und somit besteht für ihre Regelung eine besondere Tugend, wenn auch die Tugend der Abstinenz ihre Thätigkeit, das Fasten, zum Zwecke der Keuschheit hinbezieht.
