Fünfter Arükel. Die Jungfräulichkeit ist nicht die höchste Tugend.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Cyprian (de virginit.) sagt: „Nun richten wir unsere Rede an die Jungfrauen. Denn je höher die Ehre der Jungfräulichkeit ist, desto größere Sorge müssen wir den Jungfrauen zuwenden. Die Blüte sind sie der kirchlichen Pflanzung, die Zierde und der Schmuck der geistigen Gnade, der erlauchtere Teil der Herde Christi.“ II. Der Jungfräulichkeit gebührt der höchste Lohn, nämlich die hundertfältige Frucht (Glosse zu Matth. 12.), nach Hieronymus. Also ist sie die höchste Tugend. III. Durch die Jungfräulichkeit wird die Seele am meisten mit Christo verbunden, nach Apok. 14, 4. Denn „die Jungfrauen werden dem Lamm folgen, wohin auch immer es geht , . . und werden ein neues Lied singen, das kein anderer wird singen können.“ Also ist sie die höchste Tugend. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de virginit. 46.): „Niemand soviel ich weiß, dürfte es gewagt haben, die Jungfrauschaft dem Martyrium vorzuziehen“ und (I. c.): „Die kirchliche Autorität selbst bezeugt dies in ausdrücklichster Weise, wie die Gläubigen ja wissen, durch die Stelle, die sie bei den sakramentalen Gebeten den Märtyrern anweist und den verstorbenen Ordensjungfrauen.“
b) Ich antworte, im Bereiche der Keuschheit sei die Jungfräulichkeit an der Spitze; und deshalb wird der Jungfräulichkeit die höchste Schönheit zugeschrieben, weil der Keuschheit oder Reinheit im allgemeinen die Schönheit zugeteilt wird. Deshalb sagt Ambrosius (de virginit.): „Wer soll eine größere Schönheit finden wie die einer Jungfrau, die da vom Könige geliebt, vom ewigen Richter gelobt, dem Herrn geweiht, Gott geheiligt wird.“ Im Bereiche der Tugenden insgesamt aber ist die Jungfräulichkeit nicht die höchste. Denn der Zweck steht immer voran dem Zweckdienlichen. Der Zweck aber, kraft dessen sie gelobt wird, besteht darin, dem Betrachten der göttlichen Dinge sich hinzugeben. Also sind die theologischen Tugenden und die der Gottesverehrung oder Religion höhere Tugenden wie die Jungfräulichkeit; denn ihr Gegenstand ist entweder Gott selbst oder die unmittelbare Verehrung Gottes. Auch die Märtyrer wirken kräftiger dahin, daß sie Gott anhängen, denn sie setzen ihr eigenes Leben daran; und ebenso stehen die Ordensleute höher wie die Jungfrauen. Denn sie setzen hintenan ihren eigenen Willen und Alles, was sie besitzen können; während die Jungfrauen nur das Ergötzen am Geschlechtlichen zu diesem Zwecke hintansetzen,
c) I. Die Jungfrauen sind „der erlauchtere Teil“ … im Vergleich zu den Witwen und Verheirateten. II. Hier gilt dasselbe; denn Hieronymus teilt die sechzigfältige Frucht den Witwen und die dreißigfältige den verheirateten zu. Augustin aber meint: „Hundertfältige Frucht ist das Martyrium, sechzigfältige die Jungfräulichkeit, dreißigfältige die Ehe.“ III. Die Jungfrauen „folgen dem Lamme, wohin es geht;“ weil sie Christo folgen auch in der Unversehrtheit des Fleisches, nicht allein in der des Geistes, (Aug. de viirginit. 27.) Sie folgen also dem Herrn in mehr Dingen. Andere Tugenden aber machen, daß man Christo näher ist durch die Nachfolge des Geistes. Das „neue Lied“ ist die Freude, welche die Jungfrauen haben an der Reinheit und Unversehrtheit ihres Fleisches.
