Vierter Artikel. Die Jungfräulichkeit steht höher wie die Ehe.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Augustin sagt (de bono conjug. 21.): „Nicht ungleich ist das Verdienst des Johannes, der niemals in den Ehestand getreten ist, dem Verdienste des Abraham, der Kinder zeugte.“ Wäre aber die Jungfräulichkeit eine höhere Tugend wie die Keuschheit, so würde das ihr entsprechende Verdienst größer sein. II. Wäre eine Jungfrau wegen ihrer Jungfräulichkeit tugendhafter, so verdiente sie auch mehr Lob wie jede verheiratete Person, was falsch ist. III. Die Ehe hat zum leitenden Zwecke das Gemeinbeste, nach Augustin (c. 16.): „Was die Speise ist für das Wohl des einzelnen Menschen, das ist das geschlechtliche Zusammenleben für das Wohl des Menschengeschlechts.“ Die Jungfräulichkeit aber hat zum Zwecke nur das Beste des einzelnen, nämlich daß die Trübsal und Schwäche des Fleisches vermieden werde. (1. Kor. 7.) Wie das Gemeinbeste also voransteht dem Privatbesten, so die eheliche Keuschheit der jungfräulichen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de virginit. 19.): „Weder auf Grund der Vernunft, noch auf Grund der Autorität der heiligen Schriften finden wir, daß die Hochzeit Sünde sei; und ebenso nicht, daß das eheliche Leben dem jungfräulichen und dem Witwenstande an Wert gleichkomme.“
b) Ich antworte, aus der Schrift des heiligen Hieronymus gegen Jovinian (I.) gehe hervor, daß letzterer dem Irrtume folgte, der jungfräuliche Stand stehe nicht höher wie der eheliche. Dieser Irrtum wird durch das Beispiel Christi zerstört, der selbst jungfräulich lebte und sich eine Jungfrau zur Mutter auswählte; sodann durch die Lehre des Apostels, der die Jungfräulichkeit als das bessere Gut anriet (1. Kor. 7.); und auch durch die Vernunft. Denn das göttliche Gut steht voran jedem menschlichen, das Wohl der Seele dem des Körpers, das beschauliche Leben dem nach außen hin thätigen. Die Jungfräulichkeit aber ist hingeordnet zum Wohle der Seele gemäß dem beschaulichen Leben, denn das will der Ausdruck Pauli besagen, „die Jungfrau denkt an Göttliches“; die Ehe dagegen hat zum Zwecke das Wohl des Körpers, nämlich, die Vervielfältigung des Menschengeschlechts, und gehört zu dem nach außen hin thätigen Leben, da Mann und Frau notwendig haben, „zu denken an das, was der Welt entspricht.“ (1. Kor. 7.) Ohne Zweifel ist also die Jungfräulichkeit dem Ehestande vorzuziehen.
c) I. Das Verdienst wird an erster Stelle gemäß der guten Meinung im Innern; nicht aber so sehr nach der Seinsart, zu welcher der Akt gehört, abgeschätzt. Abraham nun war in seinem Innern in derartiger Verfassung, daß er bereit war, die Jungfräulichkeit zu bewahren, wenn dies jener Zeit zugekommen wäre. Somit ist für ihn der Lohn dem substantiellen Wesen nach der gleiche wie für Johannes; nicht aber der nebenbei von außen hinzutretende Lohn. Deshalb fügt Augustin hinzu: „Die Ehelosigkeit des Johannes und die Ehe Abrahams stritten je nach der verschiedenen Zeitlage gleichmäßig für Gott; Johannes aber beobachtete die Enthaltsamkeit auch in der That, Abraham dagegen nur in der Weise eines Zustandes.“ II. Der verheiratete kann in zweifacher Weise besser sein wie der ehelose: 1. mit Rücksicht auf die Keuschheit selber; wenn nämlich der thatsächlich verheiratete in seinem Innern mehr Bereitwilligkeit hat, die Jungfräulichkeit zu beobachten, wie der jungfräulich lebende, falls es sich gebührte oder zukömmlich wäre. Deshalb sagt Augustin (c. 22.): „Ich bin nicht besser wie Abraham. Aber besser ist die Keuschheit der jungfräulichen wie die der verehelichten… Denn was ich jetzt thue, das hätte jener besser gethan, wenn es damals zu thun gewesen wäre; was aber jene gethan haben, das würde ich jetzt ebenfalls (und nicht besser) thun, wenn es jetzt zu thun wäre;“ — 2. mit Rücksicht auf den Vorrang in einer anderen Tugend. Deshalb sagt Augustin (de virginit. 44.): „Woher weiß es die Jungfrau, wenn sie auch um göttliche Dinge sich kümmert, ob sie nicht vielleicht wegen einer ihr selbst unbekannten Schwäche im Geiste für das Martyrium noch unreif ist; und jene Frau im Gegenteil, der sie sich vorziehen möchte, bereits imstande ist, den Kelch des Herrn zu trinken.“ III. Das Gemeinbeste ist besser wie das Privatbeste der nämlichen „Art“. Aber wohl kann das Privatbeste besser sein in der ganzen „Art“, der es angehört, wie das Gemeinbeste. Und so ist die Jungfräulichkeit besser wie die Ehe; wie Augustin schreibt (de virginit. 9.): „Die Fruchtbarkeit des Fleisches auch jener Frauen, die nichts Anderes in der Ehe suchen als für Christi Dienst ihre Kinder zu erziehen, bietet keinen Ersatz für die verlorene Jungfrauschaft.“
