Zweiter Artikel. Nicht jede geschlechtliche Thätigkeit ist Sünde.
a) Das Gegenteil wird behauptet. Denn: I. Nur die Sünde ist ein Hindernis für die Tugend. „Nichts aber wirft so von seiner festen Burg den Geist des Menschen herab wie die weiblichen Reize und die entsprechende Berührung der Körper,“ sagt Augustin. (1 Soliloq. 10.) II. Jedes Übermaß läßt von der Richtschnur der Vernunft abweichen und somit von der Tugend. In jeder geschlechtlichen Thätigkeit aber ist ein Übermaß an Ergötzung; denn der thatsächliche Gebrauch der Vernunft geht dadurch verloren (7 Ethic. 11.), und wie Hieronymus (ep. 11.) sagt, berührte in solcher Thätigkeit der Geist der Weissagung nicht die Propheten. III. Die Ursache steht höher wie die Wirkung. Die Erbsünde aber in den Kindern leitet sich ab von der Begierlichkeit, ohne welche eine geschlechtliche Thätigkeit nicht sein kann. (Vgl. Aug. 1. de nupt. et concup. 24.) Also ist keine solche Thätigkeit ohne Sünde. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de bono conjug. 25.) indem er von der geschlechtlichen Thätigkeit spricht, kraft deren die alten Patriarchen sich mehrerer Weiber bedienten: „Genügend ist nun den Häretikern geantwortet, wenn sie es verstehen wollen, daß da weder gegen die Natur noch gegen die Sittlichkeit noch gegen ein positives Gebot gesündigt wird.“
b) Ich antworte, Sünde in den menschlichen Thätigkeiten sei das, was gegen die Ordnung der Vernunft sich richtet. Gebraucht also kraft Vernunft der Mensch das Zweckdienliche in der gebührenden Ordnung und Gebrauchsweise dem wahrhaftigen Zwecke gemäß, so ist da keine Sünde. Wie aber die Bewahrung des Einzelwesens etwas Gutes ist, so auch ist es ein Gut, die Natur der menschlichen Gattung zu bewahren. Dem Ersteren dient nun die Speise, dem Letzteren der Gebrauch des Geschlechtlichen. (Aug. de bono conjug. 16.) Wie also Speisen gebraucht werden können ohne Sünde, wenn nur das gebührende Maß berücksichtigt wird und dem Wohle des Körpers dabei genuggeschieht; so ist der Gebrauch des Geschlechtlichen ebenfalls erlaubt, wenn das gebührende Maß beobachtet und der Bewahrung des Menschengeschlechts gedient wird.
c) I. Die Tugend wird gehindert durch die Sünde schlechthin, so daß mit der Todsünde keine wahre Tugend bestehen kann. Der vollkommene Zustand der Tugend kann aber durch etwas gehindert werden, was nicht Sünde, sondern nur ein geringeres Gut ist; und danach wirft der Gebrauch eines Weibes nur von der „Burg“ d. h. von der Vollkommenheit der Tugend hinab. Deshalb sagt Augustin (de bono conjug. 8.): „Wie das, was Martha that im Dienste der Heiligen, etwas Gutes war, etwas Besseres aber, daß Maria auf die Worte des Herrn hörte; so loben wir Susanna wegen ihrer ehelichen Keuschheit, mehr aber Anna wegen der Keuschheit im Witwenstande und noch bei weitem Maria wegen der Jungfräulichkeit.“ II. Das Übermaß im Ergötzen an der geschlechtlichen Thätigkeit ist durch die Vernunft geregelt, soweit diese Thätigkeit selber in Betracht kommt; und somit besteht da die rechte Mitte. Zudem geht das die Tugend nichts an, bis zu welchem Grade der äußere Sinn sich ergötzt, sondern bis zu welchem Grade das innere Begehren solchen Ergötzungen Freude abgewinnt. Ebenso daß die Vernunft sich inmitten der geschlechtlichen Thätigkeit nicht zu Geistigem wenden kann, ist nichts gegen die Tugend; sonst wäre auch, wenn jemand sich vernünftigerweise dem Schlafe überläßt und sonach die geistige Thätigkeit der Vernunft eingestellt ist, dies Sünde. Daß aber die Begierde und Ergötzung am Geschlechtlichen nicht der Anordnung und Leitung der Vernunft unterliegt, kommt von der Strafe der ersten Sünde; insoweit der gegen Gott ungehorsame Geist es verdient hat, einen ungehorsamen Körper zu haben. III. „Aus der Begierlichkeit des Fleisches, welche den wiedergeborenen zur Sünde angerechnet wird, erscheint wie aus der Tochter der Sünde das Kind gezeugt, welches mit der Erbsünde behaftet ist.“ (13. de civ. Dei 13.) Jene Thätigkeit also ist nicht Sünde; aber in ihr ist etwas als Strafe, was von der ersten Sünde sich ableitet.
