Fünfter Artikel. Die Demut ist nicht die hauptsächlichste Tugend.
a) Dem steht entgegen: I. Chrysostomus schreibt zu Luk. 18. über den Pharisäer und Zöllner „Wenn die Demut bereits, da sie noch mit Sünden vermischt ist, so leicht in der Rennbahn der Tugenden läuft, daß sie die Gerechtigkeit, welche mit Stolz verbunden ist, überholt; — bis wohin wird sie nicht laufen, wenn sie mit der Gerechtigkeit verbunden erscheint? An den Thron Gottes wird sie kommen mitten unter die Chöre der Engel.“ So ist die Demut vorzuziehen der Gerechtigkeit, die doch an der Spitze aller Tugenden als sie alle einbegreifend steht. Also ist sie die größte Tugend. II. Augustin (de serm. Dom. 10.) sagt: „Willst du einen großen Bau aufführen bis in Himmelshöhen? Denke zuerst daran, daß du das Fundament der Demut legst.“ Also ist die Demut das Fundament aller Tugenden. III. Der größeren Tugend gebührt ein größerer Lohn. Der größte Lohn aber gebührt der Demut; denn „wer sich demütigt, wird erhöht werden.“ (Luk. 14.) Also ist die Demut die größte der Tugenden. IV. Augustin sagt (de vera Relig. 16.): „Das ganze Leben Christi auf Erden war Sittenlehre.“ Der Herr aber hielt an erster Stelle an Sich selber die Demut uns als nachahmungswert vor, nach Matth. 11.: „Lernet von mir, wie ich sanftmütig bin und demütig von Herzen;“ und Gregor sagt (Past. 3,1.): „Als Inhalt oder Inbegriff unserer Erlösung ist die Demut Gottes gefunden worden.“ Auf der anderen Seite ermahnt Paulus (Koloss. 3.): „Über Alles aber haltet die Liebe fest.“ Also nicht die Demut ist die größte Tugend.
b) Ich antworte, das Gute der menschlichen Tugend bestehe in der Vernunft. Diese aber richtet sich in erster Stelle auf den Zweck, wonach die theologischen Tugenden die höchsten sind; sodann auf das Zweckdienliche, was nämlich Beziehung hat zum letzten Endzwecke. Diese Hinordnung nun zum Zwecke besteht dem Wesen nach in der Vernunft; und es nimmt daran teil das durch die Vernunft geregelte Begehren. Solche Regelung rührt hauptsächlich aber von der Gerechtigkeit her; zumal von der öffentlichen, gesetzlichen. Einer derartigen Ordnung der Vernunft nun macht die Demut den Geist durchaus unterthan mit Bezug auf Alles; jede andere Tugend mit Bezug auf einzelne besondere Gegenstände. Also kommen zuerst die theologischen Tugenden und die in der Vernunft; dann die Gerechtigkeit zumal die öffentliche und vor den übrigen die Demut.
c) I. Der mit Stolz verbundenen Gerechtigkeit wird die Demut vorgezogen, nicht der Gerechtigkeit schlechthin. Deshalb „stieg er“ durch das Verdienst der Demut „gerechtfertigt in sein Haus hinab.“ Daher sagt Chrysostomus: „Stelle mir zwei zweispännige Wagen her; den einen bespannt mit der Gerechtigkeit und dem Stolze, den anderen bespannt mit der Sünde und der Demut; und du wirst sehen wie die Sünde durch die Kraft der Demut die Gerechtigkeit überholt; und wie der andere Wagen zurückbleibt, nicht weil die Gerechtigkeit zu schwach ist, sondern weil die Last des Stolzes zu sehr drückt.“ II. Die Tugenden werden von Gott eingeflößt. Ähnlich dem Fundamente also, was zuerst aufgelegt wird bei der Aufführung eines Baues, wird zuerst die Demut verliehen; nicht aber schlechthin zuerst, sondern wie die Entfernung von Hinderenissen (Steine, Erde in einem Bau), insofern die Demut den Stolz vertreibt und somit den Geist Gott dem Herrn unternthan und dem Gnadeneinflusse zugänglich macht. Deshalb heißt es Jakob. 4.: „Den stolzen widersteht Gott, den demütigen giebt Er seine Gnade.“ Der Glaube ist so zu sagen der positive Grundstein der Vollkommenheit und nicht bloß die Entfernung von Hindernissen; denn Paulus (Hebr. 11.) schreibt: „Der zu Gott herantritt, muß glauben.“ III. Der das irdische Gut verachtet, dem werden ewige Güter verheißen; nach Matth. 6.: „Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, sondern Schätze im Himmel.“ Denen, die hier trauern, werden die himmlischen Freuden verheißen (Matth. 5.), gemäß den Worten: „Selig, die trauern, denn sie werden getröstet werden.“ Und so wird denen, die sich demütigen Erhöhung verheißen; nicht als ob die Demut allein Solches verdiente, sondern weil es ihr eigen ist, irdische Erhabenheit zu verachten. Danach sagt Augustin (hom. ult. inter 50.): „Meine nicht, daß der sich demütigt immer auf dem Boden liege, da gesagt ist: Er wird erhöht werden; und denke nicht, seine Erhöhung sei nur eine sichtbare vor den Augen der Menschen.“ IV. Christus hat zumal die Demut empfohlen, weil sie das Haupthindernis des menschlichen Heiles entfernt; welches dafür besteht, daß der Mensch nach dem Himmlischen strebe. Darin wird er nämlich gehindert durch die zu große Anhänglichkeit an irdische Größe. Damit also der Herr dieses Hindernis entferne, zeigte Er durch sein Beispiel, wie man irdische Größe verachten müsse. Und so ist die Demut gleichsam das Vorerfordernis für das freie Hinantreten des Menschen zu Gott und zu den geistigen Gütern. Wie also die Vollendung schwerer wiegt als ein bloßes Vorerfordernis; so ist auch die Liebe samt den anderen Tugenden, durch welche der Mensch direkt zu Gott hinbewegt wird, vorzüglicher wie die Demut.
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