Sechster Artikel. Zwölf Stufen der Demut unterscheidet mit Recht der heilige Benedikt.
a) Diese Stufen sind (regula b. Bened. cap. 7.): 1. Mit dem Herzen und dem Körper immer Demut darthun, indem man den Blick zu Boden senkt; — 2. Weniges und Vernünftiges sprechen, nicht mit schreiender Stimme; — 3. nicht bereitwillig sein zum Lachen; — 4. schweigen bis man gefragt wird; — 5. festhalten an dem, was die Regel des Klosters für alle vorschreibt; — 6. glauben, man sei niedriger als alle und dies auch aussprechen; — 7. sich für Alles als unnütz und wertlos erachten; — 8. seine Sünden frei bekennen; — 9. kraft des Gehorsams Schweres und Hartes mit Geduld umfassen; — 10. gehorsam und unterwürfig sein dem Oberen; — 11. nicht gern seinem eigenen Willen nachleben; — 12. Gott fürchten und dessen eingedenk sein, was Er geboten. Diese Aufzählung ist unzulässig. Denn: I. Vieles von dem hier Genannten gehört zu anderen Tugenden, wie zum Gehorsam und zur Geduld; sodann ist falsch, man solle sich als niedriger wie alle anderen betrachten und meinen, man sei zu Allem unnütz; — es ist dies, weil es Falsches enthält, gar keine Tugend. II. Die Demut geht wie alle Tugenden von innen aus; hier aber beginnt man umgekehrt mit den äußeren Thätigkeiten und schließt mit den innerlichen. III. Anselm sagt (de similitudin. 99.), es gebe sieben Stufen der Demut: 1. zu erkennen, man sei verächtlich; — 2. darüber Schmerz zu empfinden; — 3. dies zu bekennen; — 4. dies anderen beizubringen; — 5. geduldig zu ertragen, daß man dies ausspricht; — 6. zu leiden, daß man verächtlich behandelt werde; — 7. dies zu lieben. Die sub
a) genannten also sind überflüssig. IV. Die Glosse sagt zu Matth. 3. (implere omnem justitiam): „Der erste Grad der Demut ist, sich den Oberen unterordnen; der zweite, sich den gleichstehenden unterordnen; der dritte, dem geringeren sich unterzuordnen; was die volle Gerechtigkeit in sich einschließt.“ V. Augustinus schreibt (de virginit. 31.): „Das Maß der Demut für einen jeden muß dem Grade von dessen Hochmute entsprechen; denn der Hochmut bleibt ihm gefährlich, wenn nicht seine höhere Stufe durch eine größere Demut unterdrückt wird.“ Für den menschlichen Stolz aber giebt es keine bestimmte Zahl, die seine Stufen ausdrückte.
b) Ich antworte, die Demut sei ihrem Wesen nach im Begehren, insoweit jemand den Ansturm seines Geistes zügelt, daß dieser nicht nach zu Hohem strebe; die Regel derselben aber sei in der Vernunft, daß jemand nämlich nicht sich für mehr halte als er wirklich ist. Von Beidem ist die Wurzel die Ehrfurcht vor Gott. Von der inneren Verfassung aber gehen einige äußere Zeichen in Worten, Thaten etc. aus, durch welche offenbar wird, was im Innern verborgen war. Denn „aus dem Gesichte wird der Mensch erkannt und den tugendhaften kann man unterscheiden, wenn sein Antlitz entgegentritt.“ (Ekkli. 19.) Danach nun wird die zwölfte Stufe angesetzt, welche auf die Wurzel der Demut sich bezieht: nämlich „Gott fürchten und seiner Gebote eingedenk sein.“ Auf das Begehren beziehen sich drei Stufen, daß jemand nämlich ungeregelterweise den eigenen Vorrang nicht suche: die elfte, dem eigenen Willen nicht zu folgen; die zehnte, dem Oberen zu gehorchen; und die neunte, daß man sich davon nicht durch Schwierigkeiten und Härten abschrecken lasse. Auf die Erkenntnis der eigenen Schwächen beziehen sich wieder drei Stufen: Die achte, daß man seine Sünden erkenne und bekenne; die siebente, daß man sich nicht als hinreichend betrachte für Größeres; die sechste, daß man sich nicht anderen vorziehe. Die äußeren Zeichen werden berücksichtigt durch die fünfte, daß der Mensch in seinen Werken vom gewöhnlichen Wege sich nicht entferne; durch die vierte, daß er nicht vorzeitig; durch die dritte, daß er nicht maßlos spreche; durch die zweite, daß er die äußeren Zeichen ungehöriger Freude, Lachen etc.; und durch die erste, daß er seine Blicke zügele.
c) I. Ohne Gefahr zu lügen kann jemand sich für niedriger halten wie alle anderen und dies auch aussprechen, 1. weil er seine verborgenen Fehler erkennt und 2. gemäß den Gaben Gottes, die in anderen verborgen sind. Demnach sagt Augustin (de virginit. 52.): „Haltet andere für besser in ihrem Innern, deren Vorgesetzte ihr äußerlich seid.“ Und so kann auch jemand sich für unnütz halten und es bekennen, nämlich gemäß seinen eigenen Kräften; denn Paulus sagt (2. Kor. 3.): „Wir sind nicht genügend stark von uns aus, um etwas zu denken, als ob dies von uns käme; all unser Genügen kommt von Gott.“ Dies ist aber nicht unzulässig, daß das, was auf andere Tugenden sich bezieht, von der Demut gelte; denn wie die eine Art Sünde in der anderen ihren Ursprung hat, so widerstreitet es nicht der natürlichen Ordnung, daß ein Tugendakt den Ursprung des anderen bilde. II. Zuerst kommt der Mensch zur Demut durch das Geschenk der Gnade; und mit Bezug darauf geht das Innere voran dem Äußeren. Dann kommt der Mensch zur Demut durch eigenes Bemühen; und danach muß der Mensch anfangen, die äußeren Thätigkeiten zu zügeln und kommt am Ende zur Ausreißung der Wurzel. III. Die Stufen, welche Anselm erwähnt, lassen sich zurückführen auf die innere Meinung, die Offenbarmachung derselben und den Willen, sich selbst zu erniedrigen. Denn die erste Stufe enthält dle Kenntnis des eigenen Mangels; die zweite, daß man solchen Mangel nicht lieben soll, was tadelnswert wäre. Die dritte und vierte Stufe gehören zur Offenbarmachung des eigenen Mangels, daß nämlich jemand das Mangelhafte in ihm selber nicht nur ausspreche, sondern auch andere davon zu überzeugen suche. Die drei letzten Stufen gehen das Begehren oder den Willen an, daß jemand den eigenen Vorrang nicht erstrebe, sondern die Erniedrigung nach außen hin gleichmütig in Worten, in Werken und der Sehnsucht gemäß trage. Denn Gregor (Regist, lib. 2. ep. 24.) sagt: „Es ist nichts Großes, vor denen demütig zu sein, die uns ehren; das können auch die Weltleute. Aber wahrhaft demütig ist, wer vor denen seine Demut bewahrt, von welchen er etwas leidet.“ Alle diese Stufen also gehören zur sechsten und siebenten der oben aufgezählten. IV. Diese drei Stufen werden nicht nach dem inneren Wesen der Demut aufgezählt, sondern gemäß dem Verhältnisse zu den Klassen der Menschen, die entweder höher oder gleich oder tiefer stehen. V. Auch dieser Einwurf geht nicht vom inneren Wesen der Demut aus, sondern von der verschiedenen Lage der Menschen.
