Zweiter Artikel. Der Stolz ist eine eigene besondere Sünde.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. „Ohne Stolz findest du keine Sünde,“ sagt Augustin (de nat. et grat. 29.), und ebenso Prosper. (3. de vita contempl. 2.) Also ist Stolz eine allgemeine Sünde. II. Zu Job 33. (Ut avortat) sagt die Glosse: „Gegen den Schöpfer sich hochmütig erheben will heißen: seine Gebote überschreiten.“ „Alle Sünde“ aber ist nach Ambrosius „eine Überschreitung des gottlichen Gesetzes und Ungehorsam gegen die himmlischen Gebote.“ Also alle Sünde ist Stolz. III. Eine specielle Sünde steht einer speciellen Tugend gegenüber. Der Stolz aber steht im Gegensatze zu allen Tugenden. Denn Gregor (34. moral. 18.) sagt: „Der Stolz ist keineswegs mit der Zerstörung einer einzigen Tugend zufrieden; er richtet sich auf gegen alle Glieder der Seele und wie eine allgemeine Krankheit verdirbt er den ganzen Geist;“ Isidor nennt den Stolz ebenso „den Ruin aller Tugenden“. (2. de summo Bono 38.) IV. Jede besondere Sünde richtet sich auf einen besonderen Gegenstand. Der Gegenstand des Stolzes aber ist ein allumfassender. Denn Gregor (I. c.) sagt: „Der eine wird vom Golde aufgebläht, der andere von seiner Rede; der eine von den niedrigsten, der andere von den höchsten Dingen, nämlich von den höchsten und himmlischen Tugenden.“ Also ist der Stolz eine allgemeine Sünde; er ist alle Sünde. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de nat. et grat. 29.): „Man möge nur genau nachsuchen und man wird finden, daß der Stolz gemäß dem Gesetze Gottes eine von den anderen verschiedene Sünde sei.“
b) Ich antworte, wird der eigene besondere Gegenstand des Stolzes in Betracht gezogen, so sei der Stolz eine besondere Sünde; denn er ist das ungeregelte Begehren nach einem besonderen eigenen Vorrange. Nach der anderen Seite hin aber fließt der Stolz gewissermaßen über in andere Sünden und so besitzt er einen gewissen allgemeinen Sündencharakter. Denn aus dem Stolze fließen alle Sünden: 1. an und für sich, insofern alle Sünden Beziehung haben zum Zwecke des Stolzes, nämlich dem eigenen Vorrange, auf den Alles, was jemand ungeregeltermaßen begehrt, bezogen werden kann; — 2. indirekt, insoweit er das Hindernis für die Sünde, die Achtung vor dem göttlichen Gesetze, entfernt, wodurch die Sünden vermieden werden, nach Jerem. 2.: „Das Joch hast du abgeschüttelt, die Fesseln gebrochen, du hast gesagt: Ich will nicht dienen.“ Zu dieser Allgemeinheit jedoch gehört es nur, daß alle Sünden aus dem Stolze entstehen können; nicht daß sie immer thatsächlich daraus entstehen. Obgleich nämlich jede Sünde begangen werden kann auf Grund dessen, daß man das göttliche Gesetz verachtet; in der That aber ist dies nicht immer der Ursprung für die Sünden, sondern dies ist bisweilen auch Unkenntnis oder Schwäche; weshalb Augustin sagt (de nat. et grat. 29.): „Vieles geschieht schlecht; was nicht aus Stolz geschieht.“
c) I. Augustin führt jene Worte als die eines anderen an, gegen welchen er streitet; und mißbilligt sie später, indem er zeigt, daß thatsächlich nicht alle Sünden aus dem Stolze entstehen. Oder: Jene Stellen sind zu verstehen mit Rücksicht auf die äußere Wirkung des Stolzes, die da ist: das Gesetz überschreiten; — nicht aber mit Rücksicht auf die innere Geistesverfassung, die da ist: das Gesetz Gottes verachten. II. Manchmal begeht jemand eine Sünde gemäß der Wirkung und nicht gemäß der Neigung; wie wenn er aus Unwissenheit den Vater tötet, so ist dies Vatermord der Wirkung, aber nicht der Absicht nach. Und danach wird gesagt, das Gesetz Gottes überschreiten sei Stolz: nämlich immer wenn die Wirkung angesehen wird; nicht immer aber, wenn man auf die Absicht sieht. III. Direkt, als direkt entgegenstehend nämlich verdirbt der Stolz nur die ihm eigens entgegengesetzte Tugend, die Demut. Indirekt aber, nämlich weil der Stolz jede Tugend mißbrauchen kann, indem er von der selben sich aufblasen läßt, verdirbt er jede Tugend. Denn jede Tugend kann dem stolzen Gelegenheit zu seiner Sünde geben, insoweit daraus ein Vorrang sich gründen kann. IV. Der Stolz hat seinen eigenen Gegenstand, den ungeregelten besonderen Vorrang. Aber ein solcher Vorrang kann sich in den verschiedensten Materien finden. .
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