Erster Artikel. Der Stolz ist eine Sünde.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Keine Sünde wird von Gott als Lohn verheißen; da Gott den Lohn verleiht, aber nicht die Sünde wirkt. Isai. 60. aber heißt es: „Ich will dich machen zum Stolze der Jahrhunderte, zum Gegenstande der Freude von Geschlecht zu Geschlecht.“ II. Der Ähnlichkeit mit Gott nachstreben ist keine Sünde; denn danach strebt von Natur jedes Geschöpf und zumal das vernünftige, welches das Bild Gottes trägt. „Der Stolz aber ist die Liebe zum eigenen Vorrange,“ wodurch der Mensch Gott ähnlich wird, der den höchsten Vorrang inne hat. (Sent. Prosp. sent. 292.) Und Augustin sagt (2. Conf. cap. 6.): „Der Stolz ahmt die Erhabenheit nach, da doch Du allein über Alles erhaben bist, der eine Gott.“ Also ist Stolz keine Sünde. III. Jede Sünde steht nicht nur einer Tugend, sondern auch der entgegengesetzten Sünde gegenüber. Keine Sünde aber wird gefunden, die zum Stolze im Gegensatze stände. Also ist Stolz nicht Sünde. Auf der anderen Seite heißt es Tob. 4.: „Lasse nie den Stolz in deinem Sinne oder in deinem Worte vorwalten.“
b) Ich antworte, Stolz oder Hochmut wird danach so genannt, daß jemand kraft seines Willens strebt nach dem, was für ihn zu hoch ist: „Hochmütig wird jemand genannt, weil er als höher erscheinen will wie er wirklich ist.“ (Isid. 10 Etymol. litt. S.) Die gesunde Vernunft aber schreibt vor, daß eines jeden Wille auf das sich richte, was zu ihm in gebührendem Verhältnisse steht. Also ist der Hochmut gegen die Richtschnur der Vernunft und somit Sünde; da „Sünde ist: außerhalb der Vernunft sein.“ (4. de div. nom.)
c) I. Stolz wird danach so benannt, dah er die Richtschnur der Vernunft überschreitet; und demgemäß ist er immer Sünde. Es wird jedoch „stolz“ auch etwas genannt, insoweit es weit über die gemeine Regel hervorragt; und so wird das Stolze von Gott verheißen. Deshalb sagt Hieronymus zu Isai. 61.: „Es giebt einen guten und einen schlechten Stolz,“ nämlich „einen Stolz als Sünde, dem Gott widersteht; und einen Stolz als Herrlichkeit, die Gott verleiht.“ Man kann aber auch sagen, daß in diesen und ähnlichen Stellen „Stolz“ stehe für „Überfluß“. II. Von Allem, was der Mensch begehrt, ist die Vernunft die natürliche Regel. Wird diese Regel überschritten oder nicht erreicht, so steht die Sünde da. Der Stolz aber begehrt zu viel Vorrang für das vernünftige Urteil, so dah Augustin sagt (14. de civ. Dei 13.): „Der Stolz ist das Begehren nach verkehrtem Vorrange.“ Und ebenso (19. de civ. Dei 13.): „Der Stolz ahmt Gott in verkehrter Weise nach; denn er haßt die Gleichheit mit den Genossen unter der Führung Gottes und will anstatt Gottes den Genossen seine Herrschaft auslegen.“ III. Der Stolz steht im direkten Gegensatze zur Demut; und das ihm entgegengesetzte Laster ist nahe der Kleinmütigkeit, die der Hochherzigkeit als Mangel, als „zu wenig“ entgegensteht. Denn wie die Hochherzigkeit zu Großem antreibt gegen die Verzweiflung; so zieht die Demut vom zu Großen zurück im Gegensatze zur Vermessenheit. Die Kleinmütigkeit aber steht als Mangel gegenüber der Hochherzigkeit, insoweit sie vom Verfolgen des Großartigen abzieht. Und insoweit sie mit zu Geringem sich beschäftigt als es dem Menschen geziemt, steht sie zur Demut als Mangel im Gegensatze; denn Beides kommt von geringem Geiste. So kann auch der Stolz im Gegensatze stehen zur Hochherzigkeit, indem er ungeregelterweise nach Großem strebt; und zur Demut, insoweit er die Unterwürfigkeit verschmäht. Weil aber der Stolz eine gewisse Begier nach Vorrang einschließt, ist er direkter entgegengesetzt der Demut; wie auch die Kleinmütigkeit, welche geringen Geist in sich einschließt in dem, der nach Großem strebt, direkter entgegensteht der Hochherzigkeit.
