Vierter Artikel. Das beschauliche Leben besteht vorzugsweise in der Betrachtung Gottes und nicht einer beliebigen Wahrheit.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Ps. 138. heißt es: „Wunderbar sind Deine Werke und meine Seele erkennt über ihre Kraft hinaus.“ Die Werke Gottes betrachten aber heißt eine Wahrheit betrachten. II. Bernardus.sagt (5. de consider. ult.): „Die erste Beschauung ist die Bewunderung der Majestät; die zweite die der göttlichen Ratschlüsse; die dritte die seiner Wohlthaten; die vierte hat zum Gegenstande seine Verheißungen.“ Darunter aber ist nur die erste eine Betrachtung der göttlichen Wahrheit; die anderen beschäftigen sich mit Gottes Wirkungen. III. Richardus (1. de cont. 6.) unterscheidet sechs Arten Betrachtung: 1. gemäß der Einbildungskraft allein, wenn wir auf die körperlichen Dinge acht geben; 2. gemäß der Einbildungskraft in Verbindung mit der Vernunft, wenn wir die Ordnung unter den sichtbaren Dingen erwägen und deren innere Verfassung; 3. gemäß der Vernunft, die sich auf die Einbildungskraft stützt, wenn wir vom Sichtbaren zum Unsichtbaren emporsteigen; 4. gemäß der Vernunft und gestützt auf die Vernunft, wenn wir das Unsichtbare betrachten, wohinan die Einbildungskraft nicht reicht; 5. über die Vernunft hinaus, aber nicht außerhalb derselben, wenn wir aus göttlicher Offenbarung erkennen, was für die menschliche Vernunft unerreichbar ist; 6. über die Vernunft hinaus und außerhalb derselben, wenn wir von Gott erleuchtet erkennen, was der menschlichen Vernunft zu widersprechen scheint, wie das, was über die heilige Dreieinigkeit gesagt wird. Davon aber scheint nur das Letztere zur rein göttlichen Wahrheit zu gehören. Also berücksichtigt das beschauliche Leben nicht allein die göttliche Wahrheit an sich; sondern auch jene Wahrheiten, die in den Kreaturen sich finden. IV. Als Vollendung des Menschen wird im beschaulichen Leben die Wahrheit gesucht; die gliche Wahrheit aber ist Vollendung für den Menschen. Auf der anderen Seite sagt Gregor (6. moral. 18.): „In der Beschauung wird das Princip, was Gott ist, gesucht.“
b) Ich antworte, vorzugsweise und als an erster Stelle leitender Gegenstand stehe für das beschauliche Leben da das Anschauen der göttlichen Wahrheit, des letzten Endzweckes nämlich für das ganze menschliche Leben. Deshalb sagt Augustin (1. de Trin. 8.): „Das Anschauen Gottes wird uns verheißen als Zweck aller Thätigkeiten und als ewige Vollendung aller Freude;“ was nämlich in vollendeter Weise in der seligen Ewigkeit der Fall sein wird. Jetzt, im gegewärtigen Leben, besteht dieses Anschauen in unvollendeter Weise, im Rätsel und im Spiegel; wir sehen nicht Gott von Angesicht zu Angesicht; nur ein Beginn der Seligkeit wird uns hier geboten. Weil aber durch die sichtbaren Werke Gottes wir dazu angeleite werden, Gott zu betrachten, nach Röm. 1, 20.; deshalb gehört an zweiter untergeordneter Stelle die Betrachtung der Werke Gottes zum beschaulichen Leben, soweit wir dadurch zu Gottes Kenntnis gelangen. Darum sagt Augustin (de vera. Relig. 29.): „In der Betrachtung der Kreatur muß man nicht eitler vergänglicher Neugier nachgehen, sondern die Geschöpfe müssen für uns Stufen sein zu Unsterblichem und Dauerndem.“ Sonach entsteht aus dem bisher Gesagten folgende Ordnung in dem, was dem beschaulichen Leben dient: 1. die moralischen Tugenden; 2. andere Thätigkeiten außer der Betrachtung; 3. die Betrachtung der göttlichen Werke. Und dies wird dann Alles vollendet 4. durch das Schauen der göttlichen Wahrheit.
c) I. David betrachtete die Werke Gottes, um dadurch zur Kenntnis Gottes zu gelangen, nach Ps. 142.: „Betrachtet habe ich in Deinen Werken und erwogen das, was Deine Hände hergestellt haben; meine Hände habe ich zu Dir ausgestreckt.“ II. Die Betrachtung der göttlichen Ratschlüsse führt zur Erkenntnis der Gerechtigkeit Gottes; die Betrachtung der göttlichen Wohlthaten zur Anerkennung seiner Güte. III. Es sind dies die Stufen, um zur Betrachtung Gottes emporzusteigen: 1. das Wahrnehmen der den Sinnen zugänglichen Dinge; 2. das Fortschreiten vom Sinnlichen zum vernünftig Erkennbaren; 3. die Beurteilung und Wertschätzung der sichtbaren Dinge gemäß den vernünftig erkennbaren; 4. die Betrachtung der rein geistigen Dinge ohne Rücksicht auf das Sichtbare; 5. die Betrachtung jener rein geistigen Dinge, zu welchen man von den sichtbaren her nicht gelangt; 6. Betrachtung dessen, wozu man von den sichtbaren Dingen aus weder gelangt noch was die Vernunft begreifen kann; nämlich die erhabene Anschauung der göttlichen Wahrheit. IV. Die letzte Vollendung der menschlichen Vernunft ist die göttliche Wahrheit; alle anderen Wahrheiten vollenden nur kraft ihrer Beziehung zu dieser.
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