Dritter Artikel. Das beschauliche Leben hat nur eine einzige schließliche Thätigkeit.
a) Es hat verschiedene Thätigkeiten. Denn: I. Richardus von St. Viktor (1. de cont. 3.) unterscheidet zwischen Beschauung, Betrachtung und Denken; was Alles zum beschaulichen Leben gehört. II. Der Apostel sagt (2. Kor. 3.): „Wir aber werden enthüllten Antlitzes die Herrlichkeit des Herrn erforschen.“ Also ist das Erforschen noch ein Akt des beschaulichen Lebens. III. „Die Bewunderung der Majestät ist die erste und höchste Beschauung,“ sagt Bernardus. (5. de consider. ult.) Die Bewunderung aber ist nach Damascenus (2. de orth. fide 15.) eine Art Furcht. Also hat das beschauliche Leben mehrere Akte. IV. Gebet, Lesung, Betrachtung gehört zum beschaulichen Leben. Zudem „hörte Maria zu den Füßen des Herrn sitzend auf sein Wort.“ Also dasselbe. Auf der anderen Seite wird hier „Leben“ die Thätigkeit genannt, auf welche der Geist in erster Linie gerichtet ist. Hat also das beschauliche Leben mehrere Thätigkeiten, so giebt es nicht eines, sondern mehrere.
b) Ich antworte, wir sprechen hier vom beschaulichen Leben, soweit es sich auf den Menschen erstreckt. Der Engel freilich faßt die Wahrheit unmittelbar einfach auf. Der Mensch aber gelangt nach vielseitigem Bemühen und Anstrengen erst zum Schauen der einfachen Wahrheit. Somit hat das beschauliche Leben eine Haupt- und abschließende Thätigkeit, nämlich die Betrachtung der Wahrheit; und von da her wohnt ihm Einheit inne. Sie hat aber viele Akte, vermittelst deren sie zu dieser abschließenden Thätigkeit gelangt; und von diesen gehören die einen zur Annahme der Principien, von denen die Betrachtung der Wahrheit ausgeht; die anderen zur Ableitung der Wahrheit aus den Principien; der letzte ist die Betrachtung der Wahrheit selbst.
c) I. Das Denken (cogitati) nach Richardus begreift vielerlei in sich, aus dem Allem jemand eine einfache Wahrheit gewinnen will. Dazu gehören also die Auffassungen der Sinne, die Einbildungen der Phantasie, das Schließen der Vernunft aus den Zeichen auf das Bezeichnete und Anderes überhaupt, was zur Kenntnis einer Wahrheit führen kann. Die Betrachtung (meditatio) besagt eine Thätigkeit der Vernunft, gemäß der sie in sich selbst das da Aufgenommene prüft, von den Principien zu Schlüssen und endlich zur Anschauung der Wahrheit gelangt; — und dasselbe bedeutet das Erwägen (consideratio) des heiligen Bernardus. Die Beschauung (contemplatio) ist das Anschauen der Wahrheit; weshalb Richardus sagt (äs eout. 4.): „Die Beschauung ist der scharfe freie Blick auf die zu beschauenden Gegenstände; die Betrachtung ist der Blick der Seele, die mit dem Untersuchen der Wahrheit beschäftigt ist; das Denken ist dazu hingeneigt, von außen her zu sammeln.“ II. Paulus meint unter dem „Forschen“ das Schließen auf die Ursache aus der Wirkung, in welcher wie in einem Spiegel die Ursache leuchtet. Deshalb sagt Augustin, es komme dieses „speculari“ nicht von „specula“, sondern von „speculo“. (15. de Trin. 8.) III. Die Bewunderung ist eine Art Furcht, welche dem Auffassen einer unsere Kräfte übersteigenden Wahrheit folgt; also ist sie eine die Betrachtung hocherhabener Wahrheiten begleitende Thätigkeit. IV. Der Mensch kommt zur Kenntnis einer Wahrheit 1. dadurch, daß er sie von einem anderen empfängt; und so ist mit Rücksicht auf das, was er von Gott erhält, notwendig das Gebet, nach Sap. 7.: „Ich habe ange rufen und es kam in mich der Geist der Weisheit;“ und mit Rücksicht auf das, was von einem Menschen her empfangen wird, ist notwendig das Hören und das Lesen; — 2. dadurch, daß er selbst Mühe und Anstrengung anwendet; und so ist notwendig das Nachdenken oder Betrachten.
