Fünfter Artikel. Das beschauliche Lieben gemäß dem gegenwärtigen Zustande kann nicht hinanreichen bis zum Schauen des göttlichen Wesens.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Jakob sagte (Gen. 32.): „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und heil ist meine Seele geworden.“ Also kann jemand durch Betrachtung, auch in diesem Leben, dazu gelangen, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, d. h. sein Wesen zu schauen. II. Gregor sagt (6. moral. 17.): „Beschauliche Seelen kehren in ihr eigenes Innere zurück, wenn sie Geistiges erforschen; sie ziehen keineswegs mit sich Schatten von körperlichen Dingen oder sie zerstreuen die etwa begleitenden Schatten mit der Hand der Gabe der Unterscheidung. Da sie vielmehr das unumschränkte Licht zu sehen trachten, schütteln sie von sich ab alle beschränkten Bilder und überwinden in dem über sie erhabenen Gegenstande ihrer Sehnsucht das, was sie sind: ihr eigenes Sein.“ Nur aber weil der Mensch, um geistig zu erkennen, der körperlichen Phantasiebilder bedarf, ist er gehindert, daß er nicht das unumschränkte Licht sehen kann. Also kann er nach Gregor bereits in diesem Leben das unumschränkte Licht d. h. das göttliche Wesen schauen. III. 2. dial. 35. schreibt Gregor wiederum: „Für die Seele, die den Schöpfer sieht, wird eng jede Kreatur. Der Mann Gottes also, nämlich der selige Benediktus, der auf dem Turme eine Feuerkugel und zudem auch die Engel sah wie sie zum Himmel zurückkehrten, konnte ohne Zweifel dies nicht anders wie durch göttliches Licht unterstützt sehen.“ Benediktus aber lebte zu der Zeit noch, von welcher diese Worte gelten. Also kann das beschauliche Leben sich erstrecken bis zum Schauen des göttlichen Wesens. Auf der anderen Seite schreibt dieser selbe Gregor (14. in Ezech.): „Solange jemand von diesem sterblichen Fleische umgeben lebt, macht er in der Kraft der beschaulichen Betrachtung niemals so große Fortschritte, daß er an den Strahl selber des unumschränkten Lichtes die Augen seines Geistes heften könnte.“
b) Ich antworte, daß nach Augustin (12. sup. Gen. ad litt. 27.) „niemand, der Gott sieht, in diesen Sinnen des Körpers lebt; wenn er nicht diesem Leben abstirbt, sei es daß er. den Körper verläßt oder den fleischlichen Sinnen durchaus entfremdet wird, gelangt er nicht zum Schauen des göttlichen Wesens.“ Es ist dies oben bei der Verzückung ausfuhrlicher behandelt worden. Demnach muß man sagen, es könne jemand in diesem Leben sein der wirklichen Thätigkeit nach, insoweit er thatsächlich der körperlichen Sinne sich bedient; und danach kann niemand während dieses Lebens zum Schauen von Gottes Wesenheit gelangen. Oder es kann jemand in diesem Leben sein der Substanz und dem Zustande nach, insoweit die Seele als Wesensform mit dem Körper verbunden ist; nicht aber so, daß er sich thatsächlich der Sinne und der Phantasiebilder bedient, wie dies bei der Verzückung der Fall sein kann; — und danach ist es möglich, daß jemand in diesem Leben zum Schauen des göttlichen Wesens zugelassen werden kann. Demgemäß ist die höchste Stufe des beschaulichen Lebens jene, welche Paulus in seiner Verzückung zum dritten Himmel inne hatte; er war danach in der Mitte zwischen dem gegenwärtigen Leben und der ewigen Seligkeit.
c) I. Dionysius sagt (ep. ad Cajum): „Wenn einer, der Gott sieht, verstanden hat, was er gesehen; so hat er nicht Gott gesehen, sondern etwas von dem, was Ihm gehört.“ Und Gregor (l. c.): „Keineswegs wird Gott jetzt bereits in seinem Glanze gefehen, sondern die Seele durchforscht etwas, was unter Ihm ist und davon erwärmt dringt sie weiter und gelangt nachher zum Schauen seiner Herrlichkeit.“ Jakob hat nicht das Wesen Gottes gesehen, sondern ein Phantasiegebilde, durch welches Gott zu ihm sprach; „und weil wir mittels des Antlitzes jemanden erkennen, hat er als Antlitz Gottes die Kenntnis Gottes bezeichnet.“ (Gregor. 24. moral. 5.) II. Die Betrachtung unserer Vernunft in diesem Leben kann nicht ohne Phantasiebilder sich vollziehen; denn es ist dies für den Menschen naturgemäß, daß er die geistigen Ideen in den Phantasiegebilden sieht. (3. de anima.) Die vernünftige Erkenntnis jedoch besteht nicht wesentlich in diesen Phantasiebildern; sondern in denselben betrachtet die Vernunft die. rein vernunftgemäße einfache Wahrheit. Und dies ist nicht nur bei der natürlichen Kenntnis der Fall, sondern auch bei dem, was wir durch die Offenbarung erkennen. Denn Dionysius (2. de coel. hier.) sagt: „Die Hierarchien der Engel macht uns die göttliche Herrlichkeit zugänglich in einzelnen symbolischen Figuren; und dadurch gelangen wir zum Strahle der einfachen Wahrheit als des Gegenstandes der Vernunft.“ „Die Schatten körperlicher Dinge also zieht der Geist nicht mit sich;“ d. i. er bleibt dabei nicht stehen, sondern dringt vor, um in ihnen die einfache Wahrheit zu durchforschen. III. Benediktus hat in jener Betrachtung nicht die Wesenheit des „Schöpfers“ gesehen. Gregor will nur sagen, mit Hilfe des göttlichen Lichtes sei es leicht, alle sichtbaren Kreaturen zu übersteigen und etwas Höheres vom Schöpfer zu sehen. Deshalb fügt er hinzu: „Wie wenig auch immer einer vom Lichte des Schöpfers erblickt; eng wird ihm dann Alles, was im Geschöpflichen enthalten ist.“
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