Zweiter Artikel. Die Vollkommenheit in diesem Leben.
a) In diesem Leben kann niemand vollkommen sein. Denn: I. 1. Kor. 13. heißt es: „Wenn kommen wird, was vollkommen ist, wird leer werden, was nur zum Teil ist.“ Letzteres aber geschieht nicht in diesem Leben; denn es bleibt da immer die Hoffnung und der Glaube, nämlich was zum Teile ist. II. „Vollkommen ist, dem nichts mangelt.“ (3 Physic.) „In Vielen aber stoßen wir alle an,“ sagt Jakob. 3.; und Ps. 138.: „Mein Unvollkommenes haben Deine Augen gesehen.“ III. Die Vollkommenheit des christlichen Lebens wird bemessen nach der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Vollkommene Liebe Gottes kann aber niemand auf Erden haben; denn „das Feuer der Liebe, welches hier zu brennen beginnt, entglüht noch mehr, wenn man den, welchen man liebt, schaut.“ (Gregor. 14. in Ezech.) Auch die Liebe des Nächsten kann hier nicht vollkommen sein, denn wir können nicht alle Nächsten thatsächlich lieben; einzig dem Zustande aber nach alle lieben ist unvollkommen. Auf der anderen Seite befiehlt das göttliche Gefetz nichts Unmögliches. Der Herr aber sagt (Matth. 5.): „Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Also kann jemand in diesem Leben vollkommen sein.
b) Ich antworte, die Vollkommenheit des christlichen Lebens bestehe in der Liebe. Die Vollkommenheit aber schließt einen gewissen allumfassenden Charakter ein, welchem nichts fehlt. Und so giebt es eine dreifache Vollkommenheit : I. Von seiten des Gegenstandes, so daß Gott geliebt wird, so weit Er liebenswert ist; und solche Vollkommenheit kommt Gott allein zu und keiner Kreatur; — 2. von seiten des liebenden, so daß dieser nach seinem ganzen Vermögen und Können liebt, und zwar ohne Aufhören thatsächlich auf Gott gerichtet; und das ist die Vollendung in der Heimat; — 3. von seiten der Hindernisse der Liebe, daß nämlich Alles ausgeschlossen werde, was der Liebe widerstreitet, wenn auch nicht immer dem thatsächlichen Akte nach der Mensch auf Gott gerichtet ist, wie Augustin bestimmt: „Gift für die heilige Liebe ist die Begierde; Vollkommenheit für die heilige Liebe ist: keine Begierde.“ (83 Qq. 36.) Und solche Vollkommenheit kann man in diesem Leben haben, sowohl insofern vom Herzen die Todsünde als Gegensatz zur Liebe ausgeschlossen wird, was zum Heile mit Notwendigkeit gehört; als auch sofern vom Herzen Alles entfernt wird, was die Neigung des Herzens hindert, ganz und gar auf Gott sich zu richten; und ohne diese Vollendung ist die Liebe in den Anfängern und fortschreitenden.
c) I. Der Apostel spricht von der Liebe in der Heimat. II. Dieses „Viele“, worin wir „anstoßen“, sind läßliche Sünden, welche aus der Schwäche des gegenwärtigen Lebens hervorgehen; und das ist eine Unvollkommenheit im Verhältnisse zur Vollendung im Himmel. III. Wie im gegenwärtigen Leben das Herz des Menschen nicht fortwährend thatsächlich sich zu Gott hinbewegen kann, so kann es auch nicht in thatsächlicher Wirksamkeit sich auf alle einzelnen Mitmenschen in Liebe richten; sondern es genügt vielmehr, daß es sich auf alle im allgemeinen richte und auf jeden besonderen dem Zustande nach und in der Vorbereitung des Herzens. Aber auch mit Rücksicht auf den Nächsten kommt eine doppelte Vollkommenheit in Betracht: einmal nämlich, daß nichts der Liebe des Nächsten Widerstreitendes im Herzen des Menschen sich finde; und ohne diese besteht die Liebe des Nächsten nicht; — dann
a) daß jemand nicht bloß die bekannten und Freunde liebe, sondern auch die fremden und Feinde; dies betrifft die Ausdehnung der Liebe und dies ist nach Augustin (Enchir. 73.) die Liebe der vollkommenen Kinder Gottes; —
b) daß jemand aus Liebe zum Nächsten nicht nur die äußeren Güter verachte, sondern auch die körperlichen Trübsale und selbst den Tod, nach Joh. 15.: „Eine größere Liebe hat niemand als daß er sein Leben giebt für seine Freunde;“ dies betrifft die innere Absicht und somit das Maß der Liebe; —
c) daß der Mensch seinen Nächsten nicht nur zeitliche Wohlthaten spende, sondern auch geistige, nach 2. Kor. 12.: „Ich aber will sehr gern aufwenden und darüber hinaus aufwenden mich selber für euere Seelen.“
