Erster Artikel. Für die Vollkommenheit des christlichen Lebens ist maßgebend die heilige Liebe.
a) Dagegen heißt es: I. 1. Kor. 14.: „In der Bosheit sollt ihr klein sein, den Sinnen nach aber vollkommen.“ Die heilige Liebe aber gehört nicht den Sinnen an, sondern mehr der Hinneigung. II. Ephes. ult.: „Nehmet in Empfang die Waffenrüstung Gottes, daß ihr zu widerstreiten vermöget am bösen Tage und in Allem vollkommen aufrecht stehen.“ — Und dann folgt: „Euere Lenden seien gegürtet mit der Wahrheit, seid angethan mit dem Panzer der Gerechtigkeit, in Allem nehmet den Schild des Glaubens…“ Also gemäß diesen Tugenden muß man auch über die christliche Vollkommenheit urteilen. III. Die Tugenden haben ihren Wesenscharakter vermittelst der Thätigkeiten. „Die Geduld aber ist von vollkommenem Werke begleitet.“ (Jak. 1.) Also ist die Geduld der maßgebende Grund für die Vollkommenheit. Auf der anderen Seite heißt es Koloss. 3.: „Über alles Andere habet Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit;“ denn sie verbindet alle anderen Tugenden zu vollkommener Einheit.
b) Ich antworte, Jegliches sei vollkommen, soweit es den eigens entsprechenden Zweck erreicht, der die letzte Vollendung eines jeden Dinges ist. Die heilige Liebe aber eint uns mit Gott, dem letzten Endzwecke des ganzen menschlichen Lebens; denn „wer in der heiligen Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16.) Also gemäß der heiligen Liebe wird die christliche Vollkommenheit bemessen.
c) I. Die Vollendung der menschlichen Sinne scheint darin zu bestehen, daß sie in der Einheit der Wahrheit sich zusammentreffen, nach 1. Kor. 1.: „Seid vollkommen im einen selben Sinn und in ein und derselben Meinung.“ Die heilige Liebe aber gerade bewirkt Übereinstimmung unter den Menschen. Die Wurzel der Vollendung der Sinne also ist die Liebe. II. Schlechthin vollkommen ist ein Wesen, wenn ihm nichts fehlt, was seiner Natur zukommt; wie wenn ein Tier vollendet genannt wird, wenn in der Gestaltung seiner Glieder und überhaupt in dem, was zum tierischen Leben gehört, nichts fehlt. Unter einem besonderen Gesichtspunkte vollkommen aber ist ein Wesen, dem nach einer gewissen Seite hin nichts mangelt, wie z. B. in der weißen oder schwarzen Farbe, im Gehör etc. Schlechthin nun ist das christliche Leben vollkommen, wenn es mit Gott als dem vollendenden Endzwecke verbunden ist, was durch die heilige Liebe geschieht; denn „wer nicht liebt, bleibt im Tode.“ (1. Joh. 3.) Also die heilige Liebe ist schlechthin der Maßstab der Vollkommenheit; nach anderen Tugenden wird eine gewisse Vollkommenheit nur bemessen. Also ist die heilige Liebe der höchste leitende Maßstab der Vollkommenheit. III. Aus der heiligen Liebe kommt es, daß jemand geduldig das Üble erträgt, nach Röm. 8.: „Wer wird uns trennen von der Liebe Gottes? Trübsal?…“
