Dritter Artikel. Die Vollkommenheit in ihrem Verhältnisse zu den Geboten und Räten.
a) Die Vollkommenheit des Lebens besteht in den Räten, nicht in den Geboten. Denn: I. Matth. 19. heißt es: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe Alles, was du hast und folge mir nach.“ Das ist aber ein Rat. II. Zur Einhaltung der Gebote sind alle verpflichtet. Bestände also darin die christliche Vollkommenheit, so wäre dieselbe zum Heile notwendig. III. Die Vollkommenheit des christlichen Lebens wird nach der heiligen Liebe bemessen. Die Vollkommenheit der Liebe aber besteht nicht in der Beobachtung der Gebote. Denn ihr geht vorher das Anfangen und Fortschreiten (Aug. tract. 9. in canonic. Joan.); und der Anfang der Liebe bereits kann nicht sein ohne die Einhaltung der Gebote, da „wer mich liebt, meine Gebote hält.“ (Joh. 14.) Auf der anderen Seite heißt es Deut. 6.: „Du sollst Gott deinen Herrn lieben aus deinem ganzen Herzen;“ und Lev. 19.: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ „In diesen zwei Geboten aber hängt (nach Matth. 22.) das ganze Gesetz und die Propheten.“ Nun besteht die Vollkommenheit der Liebe, der gemäß das christliche Leben vollkommen ist, darin, daß man von ganzem Herzen Gott liebt und den Nächsten wie sich selbst. Also ist die Vollkommenheit des Lebens die Beobachtung der Gebote.
b) Ich antworte, die Vollkommenheit kann in zweifacher Weise in etwas bestehen: 1. An sich und dem Wesen nach. Und so besteht sie in der heiligen Liebe: an erster Stelle in der Liebe Gottes, an zweiter in der Liebe des Nächsten. Die Liebe Gottes aber ist nicht gemäß einem bestimmten Maße geboten, so daß etwa, was über dieses Maß hinaus ginge, nur angeraten wäre, sondern ohne Maß ist sie geboten: „Aus deinem ganzen Herzen“ heißt es mit Rücksicht auf Gott (ganz aber und vollkommen ist nach 2 Physic. dasselbe); und „deinen Nächsten wie dich selbst“, sich selbst nämlich liebt jeder am meisten. Dies jedoch kommt daher, daß, wie der Apostel sagt, „der Zweck des Gesetzes die Liebe ist“ (1. Tim. 1.); im Zwecke aber giebt es kein Maß, sondern nur im Zweckdienlichen. (1 Polit. 6.) So will der Arzt ohne Maß das Gesundwerden des Kranken und läßt erst ein Maß zu, soweit es auf das Zweckdienliche, die Medizin, ankommt. Demnach also besteht die Vollkommenheit an sich und wesentlich in den Geboten; weshalb Augustin schreibt (de perf. just. 8.): „Warum sollte also diese Vollkommenheit dem Menschen nicht vorgeschrieben werden, obgleich sie in diesem Leben niemand hat?“ 2. In untergeordneter Weise und wie in einem Werkzeuge aber besteht die Vollkommenheit in den Räten, welche alle, aber anders wie die Gebote, zur heiligen Liebe in Beziehung stehen. Denn die Gebote entfernen Alles, was zur Liebe selbst im Gegensatze steht, womit die Liebe also nicht bestehen kann; die Räte aber entfernen Hindernisse für die thatsächliche Äußerung oder Bethätigung der Liebe, welche jedoch zur Liebe selber nicht im Gegensatze stehen, wie z. B. die Ehe, die Beschäftigung mit Weltlichem. Deshalb sagt Augustin (Enchir. 121.): „Was auch immer geboten ist, wie z. B.: du sollst nicht ehebrechen; oder was auch immer geraten ist, wie z. B.: Gut ist es für den Menschen, ein Weib nicht zu berühren; — dies Alles geschieht dann recht, wenn es bezogen wird auf Gott und um Gottes willen auf den Nächsten.“ Und in den collat. Patr. (1, 7.) heißt es: „Fasten, Nachtwachen, Betrachten der Schrift, Entblößung und Verzicht auf allen Besitz bilden nicht die Vollkommenheit, sondern sind deren Werkzeuge; denn nicht dies Alles ist der Zweck, sondern vermittelst dessen gelangt man zum Zwecke, … auf diesen Stufen steigen wir zur heiligen Liebe empor.“
c) I. In diesen Worten ist etwas als Weg zur Vollkommenheit bezeichnet, nämlich: „Gehe hin, verkaufe Alles, was du hast;“ — und etwas als Inhalt der Vollkommenheit, nämlich: „Und folge mir.“ Deshalb sagt Hieronymus erklärend (zu Matth. 19. ecce): „Nicht genügt es, Alles zu verlassen; deshalb fügt Petrus hinzu: Und wir sind Dir nachgefolgt, denn das ist das Vollkommene.“ Und Ambrosius sagt (zu Luk. 5.): „Er befiehlt zu folgen, nicht mit Schritten des Körpers, sondern mit der Hinneigung des Geistes;“ was zur heiligen Liebe gehört. Also aus der Redeweise selber geht hervor, daß die Räte nur Werkzeuge der Vollkommenheit sind. Denn es heißt: „Wenn du willst vollkommen sein, gehe hin;…“ als ob gesagt würde: dadurch daß du dies thuest wirst du zu diesem Zwecke gelangen. II. „Die Vollkommenheit der Liebe wird in diesem Leben dem Menschen vorgeschrieben,“ sagt Augustin (de perf. just. 8.); „denn nicht recht lauft man, wenn man darüber in Unkenntnis ist, wohin das Laufen gehen soll. Wie aber sollte man dies wissen, wenn es durch keine Gebote gezeigt würde?“ Da jedoch die Vorschrift des Gesetzes in verschiedener Weise erfüllt werden kann, so ist deshalb noch nicht jemand ein Gesetzesübertreter, wenn er nicht auf die beste Weise es erfüllt; vielmehr genügt es, wenn er irgendwie dies thut. Die Vollkommenheit der göttlichen Liebe dagegen ist in der weitesten Weise geboten, so daß die Vollkommenheit selbst der himmlischen Heimat nicht davon ausgeschlossen ist, wie Augustin oben (l. c.) gesagt hatte. Aber „das Übertreten des Gebotes vermeidet jener, der, in welch immer einer Weise, der Vollkommenheit der göttlichen Liebe sich nähert.“ Da ist nun die erste Stufe die, daß nichts mehr als Gott, oder gegen Gottes Willen, oder gleich Ihm geliebt werde; wer diese Stufe nicht einhält, erfüllt in keiner Weise das göttliche Gebot der Liebe. Eine andere Stufe ist die in der himmlischen Heimat. Wer dieser Stufe hier auf Erden ermangelt, der ist kein Übertreter dieses Gebotes; und ebenso ist er es nicht, wenn er die Mittelstufen des Gebotes nicht einhält, sondern nur, wenn er die niedrigste nicht erreicht. III. Wie der Mensch eine gewisse Vollendung besitzt, wenn er in seiner Gattungsnatur als vollkommener Mensch dasteht, also gleich bei der Geburt; eine andere aber durch die Nahrung und Entwicklung erreicht wird; — so giebt es eine Vollkommenheit der Liebe, welche dem Wesenscharakter der Liebe, ihrer Natur, entspricht, daß nämlich Gott über Alles geliebt und nichts Ihm als Gegenstand der Liebe gegenübergestellt werde. Eine andere Vollkommenheit aber giebt es noch während dieses Lebens, zu welcher einer durch geistige Nahrung und Entwicklung gelangt; wie wenn z. B. er sich erlaubter Dinge enthält, damit er mit größerer Freiheit sich Göttlichem widme.
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