Vierter Artikel. Der Sohn Gottes mußte nicht die menschliche Natur annehmen, soweit sie losgelöst ist von allen Einzelwesen.
a) Dementgegen steht Folgendes: I. Christus hat die menschliche Natur angenommen zum Heile aller, wonach (1. Tim. 4.) von Ihm gesagt wird, „Er sei der Heiland aller Menschen und zumal der gläubigen.“ Also mußte Christus die menschliche Natur annehmen als eine von allen einzelnen losgelöste. II. Was am meisten hervorragt, ist Gott zuzuschreiben. Im Bereiche einer jeden Seinsart aber ragt am meisten hervor, was diese Seinsart dem innersten Wesen nach in sich enthält, also was das betreffende Sein per se ist. Der Sohn Gottes also mußte den „Menschen an sich“, d. h. nach den Platonikern die menschliche Natur als eine von allem Einzelnen losgelöste und getrennte, annehmen. III. Nicht insoweit die menschliche Natur in einem einzelnen Menschen, in concreto, ist, hat sie der Sohn Gottes angenommen; denn Er nahm nicht „den Menschen“ ein. Also nahm Er sie an als eine von allen Einzelheiten losgelöste. Auf der anderen Seite sagt Damascenus (l. c.): „Gott, das ewige Wort, nahm nicht die menschliche Natur an, insofern sie ein Gegenstand bloßer Betrachtung ist; das wäre kein Menschwerden, sondern Täuschung und ein Phantom der Menschwerdung.“ Nun ist die von allem Einzelnen losgelöste menschliche Natur eben nur Gegenstand geistigen Denkens; denn „sie hat an und für sich kein Fürsichbestehen“ (l. c.). Eine solche Natur also hat der Herr nicht angenommen.
b) Ich antworte; außer ihrem Bestehen in einzelnen Menschen kann die menschliche Natur noch in doppelter Weise aufgefaßt werden: 1. Als rein objektiv fürsichbestehend und außerhalb des Stoffes seiend, wie Plato annahm; und 2. als in der Vernunft befindlich, sei es in der menschlichen oder in der göttlichen. An sich bestehen nach der Weise des Plato kann sie nicht; weil zur Natur der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, wie die Begriffsbestimmung sie ausdrückt, der sinnliche Stoff, z. B. Fleisch und Knochen, gehört. Die menschliche Natur also kann kein objektives Fürsichbestehen haben außerhalb des sichtbaren Stoffes. Bestände sie aber tatsächlich in dieser Weise, so wäre sie nicht geeignet, vom „Worte“ angenommen zu werden; 1. weil dieses „Annehmen“ seinen Abschluß hat in der Person; es ist dies aber gegen den Charakter einer vielen gemeinsamen Form, daß sie in einer Person sei, denn durch die Person wird sie eine einzelne und verliert die Mitteilbarkeit; — 2. weil einer solch allgemeinen Natur nur allgemeine und vielen gemeinsame Thätigkeiten zugeeignet werden können, gemäß denen der Mensch weder verdient noch mißverdient, während doch das „Annehmen“ der menschlichen Natur von seiten des Sohnes Gottes dazu dienen soll, daß Er für uns verdiene; — 3. weil eine solche Natur nicht sichtbar, sondern nur vernünftig erkennbar ist; während der Sohn Gottes auf Erden kam, daß Er sichtbar erscheine, nach Baruch 3.: „Darauf wurde Er auf Erden gesehen und hat mit den Menschen verkehrt.“ Ebenso konnte der Herr die menschliche Natur nicht annehmen, soweit sie in der göttlichen Vernunft ist; denn danach ist sie nichts Anderes als die göttliche Natur, und wäre somit von Ewigkeit die menschliche Natur im Sohne Gottes. Sie annehmen aber, soweit sie in der menschlichen Vernunft ist, hieße nichts Anderes, wie daß man vernünftig auffassen könnte, der Sohn Gottes nehme an die menschliche Natur. Nähme Er sie nun nicht als eine wirkliche, in der Natur bestehende an, so wäre solches Verständnis falsch; und es würde, wie Damascenus sagt, eine so geartete Menschwerdung nur ein eingebildetes Phantom sein.
c) I. Der Sohn Gottes ist Retter und Heiland für alle, weil Er für alle das Heil verursacht; nicht weil seine Natur in allen ist wie die menschliche Natur in allen sich findet. II. „Ein Mensch an sich“ existiert nicht auf seiten der bestehenden Dinge, wie Plato wollte. Viele jedoch meinen, Plato hätte damit die Exemplaridee des Menschen in Gott gemeint; diese nun brauchte der Sohn Gottes nicht in der Zeit anzunehmen, da Er sie von Ewigkeit besaß. III. Die menschliche Natur ist nicht als eine im einzelnen befindliche angenommen worden; so aber, daß sie sei eine einzelne, fürsichbestehend in der Person des „Wortes“.
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