Sechster Artikel. Vor der Geburt geheiligt zu werden war gerade kein eigenes Vorrecht der seligsten Jungfrau.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. Maria wurde in dieser Weise geheiligt, damit sie geeignet werde, um Mutter Gottes zu sein. Das aber war eigen Maria allein. II. Es scheinen andere Christo näher gestanden zu haben als Jeremias und Johannes der Täufer, von denen man sagt, sie seien im Mutterleibe geheiligt worden. Denn Christus war in besonderer Weise Sohn Davids und Abrahams auf Grund der Verheißung, welche diesen über Christum gemacht worden. Isaias zudem hat in ausdrücklichster Weise über Ihn prophezeit. Die Apostel ferner verkehrten auf das Innigste mit Ihm. Sind also diese alle nicht im Mutterleibe geheiligt worden, so auch nicht Jeremias und der Täufer. III. Job (31.) sagt: „Von Kindheit an wuchs mit mir die Barmherzigkeit und aus dem Mutterleibe ging sie mit mir heraus.“ Es wird aber deshalb nicht gesagt, Job sei im Mutterleibe geheiligt worden. Also gilt dies auch nicht von den beiden genannten. Auf der anderen Seite steht Jerem. 1.: „Bevor Du aus dem Mutterleibe ausgingst, habe ich Dich geheiligt;“ und Luk. 1.: „Mit dem heiligen Geiste wird der Knabe angefüllt werden noch im Mutterleibe.“
b) Ich antworte, Augustin scheine (in ep. ad Dardanum) an dieser Heiligung zu zweifeln: „Es konnte,“ sagt er, „das Frohlocken im Mutterleibe ein Zeichen für eine so große Sache sein, nämlich daß ein Weib Mutter Gottes wäre und daß dies die Eltern erkennen sollten; nicht aber braucht es zu bezeichnen, daß das Kind selber dies kannte. Deshalb heißt es im Evangelium nicht: Es glaubte das Kind, sondern: es frohlockte. Wir sehen aber, daß nicht nur Kinder, sondern auch Tiere frohlocken. Das nur ist hier ungewohnt, daß es im Mutterleibe geschieht. Wie also von Gott her Wunder zu geschehen pftegen, so ist dies im Kinde von Gott her gemacht worden; nicht als Mensch hat es das Kind gemacht. Sollte aber wirklich bis zu dem Grade in jenem Knaben der freie Gebrauch der Vernunft gewesen sein, daß er erkennen, glauben, zustimmen konnte als im Mutterleibe befindlich; so ist dies ebenfalls unter die Wunder der göttlichen Macht zu zählen.“ Nach den ausdrücklichen Worten der Schrift scheint es aber angemessener zu behaupten, daß Jeremias und Johannes im Mutterleibe geheiligt worden sind. Jedoch hatten sie im Mutterleibe nicht den Gebrauch des freien Willens, worüber eigentlich Augustin seine Zweifel erhebt; wie ja auch die Kinder nach der Taufe nicht den Gebrauch des freien Willens haben und doch die Gnade empfangen. Man darf auch nicht glauben, daß noch andere so geheiligt worden sind; denn dergleichen Vorrechte werden gegeben zum Nutzen anderer (nach. 1. Kor. 12., „es wird der Geist offenbar zum Nutzen“) und müssen deshalb der Kirche bekannt werden. Und obgleich ein Grund für Gottes Auswahl nicht angegeben werden kann; so ist es doch leicht, einige Zukömmlichkeiten zu finden, weshalb gerade diese beiden im Mutterleibe geheiligt worden sind: Jeremias nämlich war die ausdrücklichste Figur für das Leiden Christi in seinen Worten und in seinen Thaten; das Leiden Christi aber war das Mittel für unser aller Heiligung, nach Hebr. ult.: „Damit Er sein Volk heilige durch sein Blut;“ — Johannes aber bereitete die Menschen zur Reinigung und Heiligung in der Taufe Christi vor, von welcher geschrieben steht 1. Kor. 6.: „Aber ihr seid abgewaschen worden; ihr seid geheiligt worden.“
c) I. Maria, als zur Mutter des Herrn ausgewählt, empfing eine höhere und umfangreichere Heiligung wie Jeremias und Johannes, die nur ein gewisses besonderes Geheimnis der Heiligung vorbildeten. Sie ward so geheiligt, daß sie gar nicht sündigte, weder schwer noch läßlich; — die beiden anderen aber, wie man glaubt, so, daß sie nach ihrer Geburt keine schwere Sünde begingen. II. Mit Bezug auf diese zwei Geheimnisse der Heiligung, die von Christo ausging auf alle Menschen, waren Jeremias und Johannes näher Christo und wurden deshalb in specieller Weise geheiligt; in anderen Punkten konnten Christo andere näher stehen. III. Jene „Barmherzigkeit“ bei Job bezeichnet nicht die eingegossene vollendete Tugend, sondern eine gewisse mit der Natur gegebene Hinneigung.
