Fünfter Artikel. Kraft der Heiligung im Mutterleibe hat Maria die Fülle aller Gnaden erlangt.
a) Dagegen stehen folgende Gründe: I. „Voll der Gnade und Wahrheit“ zu sein, ist nach Joh. 1, 14. ein Vorrecht Christi. Also ist es nicht anderen zuzuerkennen. II. Was angefüllt ist, zu dem kann nichts mehr hinzugefügt werden (3 Physic.); denn es fehlt da nichts. Maria aber hat einen Zusatz von Gnade erhalten, als Christus in ihr empfangen wurde, nach Luk. 1.: „Der heilige Geist wird über Dich kommen.“ III. Gott macht nichts zwecklos. Zwecklos aber wären in Maria Gnadengaben gewesen, die sie nie angewendet oder bethätigt hat; denn wir lesen nicht, daß Maria gelehrt habe, was der Akt der Weisheit ist, oder Wunder gewirkt, was eine Thätigkeit der zum Besten anderer verliehenen Gnaden ist. Also hatte sie nicht die Fülle der Gnaden. Auf der anderen Seite sagt der Engel: „Sei gegrüßt, Gnadenvolle,“ wozu Hieronymus bemerkt (de assumpt.): „Gut sagt der Engel: Gnadenvolle; denn die anderen haben je besondere, teilweise Gnaden erhalten; in Maria aber ergoß sich die ganze Fülle der Gnaden.“
b) Ich antworte; je mehr etwas dem ersteinwirkenden Princip in einer Seinsart nahe steht, desto mehr nimmt es teil an der Wirkung dieses Princips. Deshalb sagt Dionysius (4. de coel. hier.), daß die Engel, welche näher bei Gott sind, mehr als die ferner stehenden Menschen an Gottes Güte teilhaben … Christus aber ist Princip im Bereiche der Gnade: als Gott durch seine Macht, als Mensch in der Weise eines Werkzeugs, wonach es bei Joh. 1. heißt: „Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum gemacht worden.“ Da nun die seligste Jungfrau Christo der menschlichen Natur nach am nächsten steht, mußte sie von Christo eine größere Fülle der Gnaden erhalten.
c) I. Einem jeden wird Gnade gegeben gemäß dem, wozu er auserwählt ist. Und weil Christus als Mensch dazu erwählt war, daß Er Sohn Gottes sei in der Kraft zu heiligen; deshalb ist dies Ihm eigen, daß Er eine solche Fülle der Gnade hatte, welche überflösse in alle, nach Joh. 1.: „Von seiner Fülle haben alle empfangen.“ Die seligste Jungfrau aber hat eine solche Gnadenfülle empfangen, daß sie am nächsten stehe Christo, dem Quell der Gnade; daß sie nämlich Jenen, der voll ist jeder Gnade, in sich empfange und gebäre und so gewissermaßen die Gnade von ihr aus auf alle überströme. II. Im Bereiche der natürlichen Dinge ist zuerst die Vollendung im Zustande der Vorbereitung für die zu erwartende Form; wie wenn der Stoff in die bestimmte Verfassung gesetzt wird, um die Form zu empfangen. Dann kommt die Vollendung der Form selber, die voransteht der ersteren Vollendung; wie die Wärme vollendeter ist, die vom Feuer ausströmt als jene, welche zum Feuer vorbereitet. An dritter Stelle steht die Zweckvollendung, wie z. B. das Feuer am vollkommensten seine Eigenheiten besitzt, wenn es an seinen, ihm eigenen Ort gekommen ist. So war in Maria 1. die Vollendung der Heiligung im Mutterleibe, durch die sie vorbereitet wurde, Mutter Gottes zu sein; — 2. die Vollendung der Gnade der Empfängnis Christi, als das „Wort“ in ihr Fleisch annahm und so in ihr gegenwärtig war; — 3. die Vollendung des Zweckes, welche im Himmel sich findet. Der Stufengang im Grade der Vollendung zeigt sich 1. in der Entfernung vom Übel. Denn durch die erste Vollendung ward sie von der Erbsünde befreit; durch die zweite vom Fleischesstachel oder fomes; durch die dritte ist sie befreit worden von allem Elende; — 2. in der Beziehung zum Guten. Denn in der ersten Vollendung empfing sie Gnade, um sie zu allem Guten hinzuneigen; in der zweiten empfing sie Gnade, die sie befestigte in allem Guten; in der dritten ward die Gnade vollendet durch den Genuß alles Guten. III. Maria empfing ohne Zweifel in hervorragendem Grade die Gabe der Weisheit und die Gnade aller Tugenden und auch die Gnade der Weisfagung; aber sie empfing es nicht, alle diese Gaben thatsächlich in jeder Weise zu gebrauchen, sondern wie dies ihrem Stande entsprach. So hatte sie den Gebrauch der Weisheit im Betrachten, nach Luk. 2.: „Maria aber behütete in sich alle diese Worte und betrachtete sie in ihrem Herzen;“ den Gebrauch, sie zu lehren, hatte Maria nicht, denn das geziemte nicht ihrer Stellung als einem Weibe, nach 1. Tim. 2.: „Zu lehren aber gestatte ich der Frau nicht.“ Wunder thatsächlich während ihres Lebens zu wirken kam ihr nicht zu, weil damals die Lehre Christi durch Wunder zu bekräftigen war. Also Christo allein und seinen Jüngern, die da Träger seiner Lehre waren, kam es zu, Wunder zu wirken. Deshalb heißt es auch Joh. 10., daß „Johannes der Täufer kein Wunder wirkte,“ damit alle auf Christum merkten. Den Gebrauch der Weissagungsgabe hatte sie, wie aus dem Magnifikat hervorgeht.
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