Achtundvierzigstes Kapitel Das Übel in den Dingen. Überleitung.
„Nimm die Hülle weg von meinen Augen: und ich werde betrachten das Wunderbare, was von deinem Gesetze kommt. (Ps. 118.). Die Übel in der Welt bilden die Hülle vor unseren Augen. „Warum doch,“ ruft der Psalmist aus, „glückt alles den Gottlosen auf ihrem Wege!“ „Von den Arbeiten und Mühen der Menschen wollen sie nichts wissen: und die Geißel der Trübsal haben sie nicht gemein mit den anderen ... . Siehe da die Sünder; weltliche Ehren haben sie im Überfluß: und Reichtümer sind ihnen in Menge geworden.“ Den reichen Prasser und den armen Lazarus können die Augen der Natur sich nicht erklären. Bete zum Herrn, daß „Er wegnehme diese Hülle“; und „du wirst eintreten in sein Heiligtum“; und der letzte Grund des wunderbaren Gesetzes, welches die Kreaturen leitet, wird dir offenbar sein. Ist es ein Übel für das Wasser, wenn es durch kunstvolle Vorrichtungen auf Felder geleitet wird, die auf mehr oder minder hohen Bergen liegen, um da zu erfrischen und zu befruchten; — oder wenn es in starkem Strahle viele Fuß hoch emporsteigt, um das Auge des Menschen zu entzücken? Freilich ist es ein Übel für das Wasser, wenn dessen Natur allein betrachtet wird. Denn „Übel“ ist das, was gegen die Richtung der eigenen Natur geschieht. Dem Wasser ist es von Natur eigen, herabzufließen; nicht aber emporzusteigen. Wird dasselbe aber in Verbindung mit der wirkenden Ursache betrachtet, durch deren Macht es emporgeleitet wird, so ist es dem Wasser ganz natürlich, nach oben zu gehen und niemand sieht darin etwas Unnatürliches. Denn Natur ist es dem Wasser, daß es nicht in sich den letzten Zweck hat, sondern dem Ganzen als Glied angehört und somit unter der Macht des Grundes steht, der zum Besten des Ganzen wirkt. Was sonst Zwang und somit vom Übel wäre, wird unter einer solchen Ursache etwas der Natur des Wassers Entsprechendes. Natürlich ist es dem Marmor, da liegen zu bleiben, wo er ist. Aber dies ist ihm natürlich nur mit Rücksicht auf ihn selbst; er verlangt seiner Natur nach nichts Anderes. Ist er unter der Hand des verständigen Künstlers, der ihn und seine Eigentümlichkeiten ganz in der Gewalt hat; so ist es ihm mit Beziehung auf diesen ebenso natürlich, behauen zu werden und eine Kunstform anzunehmen. Ein Übel für die Pflanze ist es, daß das Tier sich davon nährt; denn dadurch verliert sie ihr Sein. Aber wird sie in Beziehung zum Ganzen gebracht, so ist dies kein Übel mehr, sondern ein Gut. Mit Schlägen und Hunger wird das Pferd zahm gemacht; das ist ein Übel für das Pferd allein an sich betrachtet. Aber das Pferd ist seiner Natur nach ein Glied des Ganzen und als solches ist es von Natur aus höheren Kräften unterworfen, damit es dem Besten des Ganzen diene. „Den Sohn, den er liebt, schlägt der Vater,“ sagt Paulus; denn der Vater will, daß etwas aus ihm werde. „Jede Erziehung und Buße scheint Trauer und Pein im Gefolge zu haben,“ so derselbe Apostel; „aber sie wird die süßesten Früchte bringen.“ Siehst du, wie die Natur selber so klar und offen wird; wenn der Herr die Hülle von den Augen entfernt: und wie wir auf diese Weise Wunderbares schauen im Gesetze Gottes. In der ganzen Natur ist Ordnung. Eine verursachende Kraft steht höher als die andere. Der höheren steht zu Gebote die Macht über die Natur der niedrigeren. Und gehorcht letztere der höheren, so ist dies für das Einzelne im Augenblicke ein Übel, ein Zwang, aber für das Ganze ist es ein Gut; und da das Einzelne eben seiner Natur nach Glied im Ganzen ist, so ist das Wohl des Ganzen schließlich zugleich das Wohl des Einzelnen, wenn es auch zuerst nicht so scheint. Die Natur als Ganzes aber fließt aus der Weisheit der ersten Seinsursache. Also mit Rücksicht auf diese kann es gar kein Übel geben außer für den, der von deren leitender Hand sich selber trennt. Das ist das einzige Übel, soweit da keine Beziehung zum Urgründe, zur Güte und Weisheit Gottes besteht; denn dadurch wird auch jedes andere Gut ausgeschlossen. Halte fest daran, daß alles, was dir begegnet, auf die leitende Vaterhand Gottes zeigt! Lasse deine niedrigere Natur etwas leiden, wie das Wasser leidet unter der Hand des Künstlers, der es hinaufführt; wie der Marmor leidet unter den Schlägen des Meisters! Du bist dann sicher, daß das einzige wahre Übel dich nicht treffen wird. Was willst du immer in unruhigem Verlangen einen höheren Stand, unzufrieden mit dem, was dir bescheert ist? Bist du weiser als dein Schöpfer, der so angeordnet hat? „Auge“ möchtest du sein; und der Herr will, daß du Fuß seiest. Ich will so sein, wie der andere; meinst du. O verwegenes Wort der „Gleichheit“! Ungleichheit hat der Herr gewollt in seinen Kreaturen; damit so auf verschiedene Weise seine Herrlichkeit hindurchleuchte, und damit in dieser Weise, was der einen Kreatur fehlt, die andere ersetze. Oder leiden nicht die Augen zu gleicher Zeit, wenn der Fuß krankt und wenn sie deshalb nicht an einen anderen Ort sich begeben können, um dort zu schauen? Seine wahre Ehre soll der Mensch darin finden, daß er dem Ganzen angehört, daß ihm so die Arbeiten der anderen Kreaturen zu gute kommen und die seinigen wieder den anderen. Der Niedrigste steigt da hoch empor und der Höchste dient dem Besten des Niedrigsten. „Wenn aber alles Auge wäre im Körper, wo wäre dann der Fuß? Und wenn alles Ohr wäre, wo wäre dann die Hand? So aber tragen wir die meiste Sorge um solche Organe, die scheinbar gar nicht bemerkt werden.“ (1. Kor. 12.) „Ich bitte dich;“ sagte die Mutter der Makkabäer zum Troste ihrem Sohne, „siehe an den Himmel und die Erde; aus Nichts hat Gott sie gemacht.“ Ihm also gehört die Bestimmung und die Herrschaft, ohne den kein Sein, kein Wirken stattfinden kann. Wie kannst du dein Glück in diesen Geschöpfen suchen, deren Eigentum das Nichts ist; und die da, was sie Anziehendes haben, nur Gott verdanken. „Was sollst du anders verlangen,“ so Augustin (24. de verb. dom.) „Geiziger, wie Gott? Was soll dir genügen, wenn dir Gott nicht genügt? Wie lärmt doch die Welt hinter dir, daß du zurückschauest; daß du auf die gegenwärtigen Dinge (und wie sind diese Dinge gegenwärtig, die da fortwährend wechseln) dein Vertrauen setzest und von dem, was Christus versprochen und noch nicht gegeben hat, aber weil Er treu ist, geben wird, den Blick abwendest! Was willst du doch suchen in der Welt, wo alles zu Grunde geht? Was lärmst du im Herzen, unreine Welt? Was willst du uns abwenden von Gott? Du gehst fortwährend zu Grunde und willst festhalten; was würdest du erst thun, wenn du Bestand hättest!“ Daß uns die Welt mit ihrem Lärm, mit ihrer Unruhe, mit ihren Übeln vielmehr inniger mit Gott verbinde, mit der Seligkeit, mit dem Frieden, mit dem höchsten Gute! Und daß uns so „die Hülle der Unzufriedenheit, des Murrens vor den Augen schwinde“, welche die Übel in der Welt vorgelegt haben; wenn wir „das Wunderbare betrachten, das vom Gesetze Gottes kommt“; jenes Wunderbare, wonach, wie Augustin sagt, „Gott so gut ist, daß Er keine Übel in der Welt zugelassen hätte, wenn Er nicht so mächtig wäre, daß Er auch aus dem Übel Gutes hervorgehen läßt.“
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