Zweiter Artikel. Der Grad der Tugend, in welchem der Mensch durch die Buße aufsteht, im Verhältnisse zum früheren.
a) Nach der Buße steht der Mensch auf im nämlichen Tugendgrade, den er früher hatte. Denn: I. Zu Röm. 8.: „Denen die Gott lieben, gereichen alle Dinge zum Besten,“ erklärt Augustin (de cor. et grat. c. 9.): „Dies ist bis zu dem Grade wahr, daß, auch wenn von diesen manche vom rechten Wege abweichen und sündigen, dieses selbst Gott ihnen zum Guten gereichen läßt.“ Dies würde aber nicht gesagt werden können, wenn der Mensch nach der Buße einen minderen Grad von Tugend hätte. II. „Die Buße ist eine überaus gute Sache,“ sagt Ambrosius; „denn alle Mängel führt sie zurück zum Vollendeten.“ Also ist der Tugendgrad, in welchem der Mensch nach der Buße aufsteht, zum mindesten gleich dem früheren. III. Zu Gen. 1. sagt die Glosse: „Das Abendlicht ist jenes, von dem aus jemand fällt; das Morgenlicht, bei welchem er aufsteht.“ Das Morgenlicht aber ist größer wie das Abendlicht. Also ist größer der Grad der Liebe oder der Gnade nach der Buße wie vorher. Und dies ist auch gemäß den Worten Pauli: „Wo überfloß die Sünde, da floß über auch die Gnade“ (Röm. 5.). IV. Auf der anderen Seite ist die fortschreitende oder vollendete Liebe größer wie die beginnende. Bisweilen aber fällt jemand ab von der fortschreitenden Liebe, so daß er aufsteht in der beginnenden. Also ist immer der Grad der Tugend, in welchem man aufsteht, geringer wie jener, der ftüher bestand.
b) Ich antworte; die freie Willensbewegung, welche sich in der Rechtfertigung des Sünders findet, sei die letzte vorbereitende Verfassung im Sünder für die Gnade. Also im nämlichen Augenblicke ist das Eingießen der Gnade wie diese freie Willensbewegung (I., II. Kap. 113, Art. 5 u. 7.). In letzterer aber ist eingeschlossen die Thätigkeit der Buße. Offenbar nun richten sich Formen oder Zustände, die ein Mehr und Minder zulassen, nach der Verfassung des tragenden Subjekts (I., II. Kap. 52, Art. 1 und 2; und Kap. 66.). Je nachdem also die freie Willensbewegung in der Buße nachlässiger ist oder angestrengter, erreicht der Büßer mehr oder minder Gnade. Nun steht der freie Willensakt des büßenden manchmal im gebührendenVerhältnisse zu einer größeren Gnade als jene, die früher bestand; manchmal zu einer gleichen oder auch zu einer minderen. Also steht der reuige bisweilen mit einer größeren Gnade auf wie früher, bisweilen mit einer gleichen, bisweilen mit einer minderen.
c) I. Nicht „in allen die Gott lieben“, gereicht das Fallen zum Guten; z. B. nicht in jenen, die niemals wieder aufstehen. Vielmehr ist dies nur in jenen der Fall, die „berufen sind gemäß dem Vorsatze Gottes als heilige“ d. h. als vorherbestimmte. Es gereicht ihnen also zum Guten wenn sie fallen; nicht weil sie immer in einer größeren oder gleichen Gnade aufstehen, sondern weil sie in einer beharrlicheren Gnade aufstehen; denn um so beharrlicher ist der Mensch in der Gnade, je vorsichtiger und demütiger er ist: „Diese kehren mit größerer Demut zu Gott zurück,“ sagt deshalb dazu die Glosse. II. Die Buße an sich hat die Kraft, alle Mängel in vollendeter Weise zu ersetzen; aber dies wird manchmal gehindert durch die nachlässige freie Willensbewegung des Menschen selber zu Gott hin. So erreichen auch in der Taufe die erwachsenen mehr oder minder Gnade, je nachdem sie in der gebührenden Verfassung mehr oder minder sind. III. Diese Vergleichung geht nur auf die Reihenfolge in der Zeit. Denn nach dem Abendlichte folgt die nächtliche Finsternis und nach dem Morgenlichte folgt das Licht des Tages. Dies hat nichts zu thun mit dem minderen oder größeren Umfange. Der Apostel will nur hervorheben, daß die Macht der Gnade stärker ist als alle Sünde. Das ist nicht wahr, daß, den Umfang der zuständlichen Gnade betrachtet, jene mehr Gnade erhalten, welche mehr gesündigt haben. Denn die kleinste Gnade genügt, um alle Sünden zu tilgen. Jedoch mit Rücksicht auf den Charakter der Gnade als solcher empfängt der größere Sünder eine größere Gnade, denn er hat sie am mindesten verdient; Gnade ist ja als Gnade eben etwas Unverdientes. Jedoch haben manchmal solche, die überreich gesündigt, auch einen überreichen Reueschmerz; und so erreichen sie einen größeren Umfang von Gnade und Tugenden, wie dies z. B. bei Maria Magdalena der Fall war. IV. In ein und demselben ist wohl die fortschreitende Liebe größer wie die beginnende. Aber kommen verschiedene Menschen in Betracht, so kann die Liebe bei dem einen mit einem höheren Grade anfangen als der andere hat, der bereits fortschreitet. So schreibt Gregor vom heiligen Benedikt: „Als Knabe bereits, von einer wie großen Vollendung ging er aus?“
