Vierter Artikel. Die in der Liebe gethaenen Werke der Tugenden können zu toten Werken werden.
a) Dies können sie nicht. Denn: I. Was nicht ist, kann nicht verändert werden. Totwerden aber ist ein Verändern vom Leben aus zum Tode. Da also die gethaenen Werke nicht mehr sind, können sie nicht zu toten werden. II. Durch solche Werke verdient der Mensch das ewige Leben. Mandarf aber dem, der etwas verdient hat, nicht dies vorenthalten; dies wäre ungerecht. Also werden die in der Liebe gethaenen Werke durch eine nachfolgende Sünde nicht zu toten Werken. III. Das Stärkere wird nicht besiegt vom Schwächeren. Die Werke der Liebe aber sind stärker wie alle beliebigen Sünden; denn „alle Sünden bedeckt die Liebe“ (Prov. 10.). Also kann die Sünde nicht ertöten die Werke der Liebe. Auf der anderen Seite heißt es Ezech. 18.: „Wenn der gerechte sich abwendet von seiner Gerechtigkeit; aller Gerechtigkeiten, die er gethan, werde ich nicht mehr gedenken.“
b) Ich antworte; ein lebendes Wesen verliere durch den Tod die Wirksamkeit des Lebens. In der Weise der Ähnlichkeit also sagt man, es werde etwas tot, wenn es gehindert wird, seine eigene Wirkung oder Thätigkeit zu entfalten. Nun ist die Wirkung der tugendhaften Werke, die in der Liebe geschehen, die, daß sie zum ewigen Leben führen; was durch die Todsünde gehindert wird, welche die Gnade entfernt. In diesem Sinne also sagt man, die in der Liebe gethaenen Werke werden zu toten durch die nachfolgende Todsünde.
c) I. Wie die sündigen Akte dem thatsächlichen Sein nach vorübergehen und der Verschuldung nach bleiben; so gehen die in der Liebe gethaenen Werke dem thatsächlichen Sein nach vorüber und bleiben gemäß dem Verdienste vor Gott. Danach also werden sie zu toten, insofern der Mensch gehindert wird, daß er nicht seinen Lohn erhalte. II. Ohne Ungerechtigkeit kann dem, der ihn verdient hat, der Lohn zurückbehalten werden, wenn er sich desselben unwürdig zeigt durch die nachfolgende Schuld. Denn auch das, was der Mensch bereits erhalten hat, verliert er bisweilen gerechterweise durch die nachfolgende Schuld. IV. Nicht wegen der den Sünden innewohnenden Kraft ist es, daß sie die Liebeswerke töten; dies kommt von der Freiheit des Willens, der vom Guten sich zum Bösen wenden kann.
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