Dritter Artikel. Der Engel erkennt nicht vermittelst der Schlußfolge.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Die Engel erkennen das eine durch das andere, denn sie erkennen die Kreaturen durch das „Wort“. Die Schlußfolge in der Vernunft ist aber nichts anderes wie das eine durch das andere erkennen. II. Was die tiefer stehende Kraft vermag, das vermag auch die höhere. Die menschliche Vernunft vermag aber durch Schlußfolge zu erkennen, nämlich aus den Wirkungen zu den Ursachen aufzusteigen. Also kann dies auch die höhere Erkenntniskraft, nämlich die des Engels. III. Isidorus (I. de summo bono c.10.) sagt, die Dämonen erkannten vieles durch die Erfahrung. Die Erfahrung aber ist ein Wissen durch Schlußfolge; denn aus vielen Erinnerungen wird auf sie geschlossen und so eine Erfahrung, ein Erfahrungswissen hergestellt. Auf der anderen Seite sagt Dionysius (7. de div. nom.), daß die Engel nicht aus gesprochenen Worten ihr Wissen von Gott sammeln und nicht von einem Gemeinsamen aus das Besondere erkennen.
b) Ich antworte, daß die Engel jenen Grad im Bereiche des Geistigen einnehmen, welchen die Himmelskörper im Bereiche des Stofflichen besitzen, weshalb sie auch von Dionysius „himmlische Vernunftkräfte“ genannt werden. Nun besteht aber dieser Unterschied, daß die irdischen Körper erst durch Veränderung und Bewegung, durch Wachsen und Zunehmen ihre letzte Vollendung im Sein ihrer Natur erreichen; während die Himmelskörper vom Beginne ihrer Natur an vollendet waren. So nun kommen auch die niedigeren Vernunftkräfte, die der Menschen, durch eine gewisse Bewegung von einem zum anderen; durch Schlußfolge kommen sie zur Vollendung im Erkennen. Würden sie aber gleich vom Beginne an alle die Schlußfolgerungen als erkannte Wahrheiten vor sich haben, so wären sie eines Vorgehens wie das, von einem auf das andere schließen zu müssen, nicht bedürftig. Dies hat nun in den Engeln statt, die gleich von Anfang an alles, was sie natürlicherweise erkennen können, auch thatsächlich in sich erkennen. Und deshalb werden sie „reine Vernunftkräfte“ genannt; denn sie verstehen allsobald alles. Der menschlichen Seele aber ist es in Anbetracht ihrer Schwäche in der Vernunft nur dann möglich zu erkennen, wenn sie sich der Schlußfolge bedient. Hätte sie demzufolge die volle thatsächliche Vernunftkraft wie die Engel, so würde sie vom Beginne an alle Schlußfolgerungen in den Principien schauen.
c) I. Die Schlußfolge bedingt, daß das eine früher bekannt oder bekannter sei wie das andere. Ist also alles von vornherein gleichmäßig bekannt, so bedarf es keiner Schlußfolge; mag auch das eine im anderen geschaut werden, wie ich z. B. den Spiegel zugleich sehe mit der Sache, welche darin abgebildet erscheint. II. Die Engel kennen unsere Schlußfolgen und das dabei beobachtete Vorgehen; aber sie bedienen sich derselben nicht. Denn sie sehen in den Ursachen die Wirkungen, ohne eine Schlußfolge notwendig zu haben. III. Bei Engeln und Dämonen wird von Erfahrung gemäß einer gewissen Ähnlichkeit gesprochen, insofern sie nämlich die sichtbaren Dinge als gegenwärtige erkennen; jedoch ohne alle vorhergängige Schlußfolge.
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