Zweiter Artikel. Der Engel kann vieles zugleich verstehen.
a) Dagegen spricht: I. „Vieles kann man wissen,“ sagt Aristoteles (II. Topic. 4.), „aber nur eines verstehen.“ II. Ein Körper kann nicht nach mehreren Figuren zugleich gebildet werden. Was aber für den Körper als Ausdruck seines Umfanges die Figur ist, das ist für den Engel oder überhaupt für die Vernunft die Erkenntnisform, welche den Ausdruck des Vermögens bildet. III. Erkennen oder Verstehen ist gewissermaßen Bewegung. Keine Bewegung aber hat zugleich verschiedene Zielpunkte. Also kann der Engel nicht zugleich vieles verstehen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (4. sup. Gen. ad litt. 32.): „Die geistige Fähigkeit der Engelvernunft versteht mit größter Leichtigkeit zugleich alles, was sie will.“
b) Ich antworte, zur Einheit der Thätigkeit wird erfordert ebenso die Einheit des Gegenstandes, wie zur Einheit der Bewegung die Einheit des Zielpunktes. Es kann aber das „mehr“ und das „eine“ verschieden betrachtet werden; wie z. B. die Teile eines in sich zusammenhängenden Dinges als „eines“ betrachtet werden im Ganzen, und als „mehrere“, wenn jeder für sich bezeichnet wird. Im ersten Falle werden sie durch eine einzige Thätigkeit sowohl vom Sinne als von der Vernunft wahrgenommen; im zweiten durch mehrfache. Und so versteht auch unser Verstand Subjekt und Prädikat zugleich als Teile eines Satzes; und zwei miteinander verglichene Dinge als eins durch den Vergleich. Soweit also mehrere Dinge als mehrere aufgefaßt werden, sind sie nicht zugleich verständlich; wohl aber, soweit sie in einem Erkennbaren verbunden sind. Denn jegliches Sein wird verstanden, sofern und sowie es in der Vernunft ist. Was nun also durch eine einzige Erkenntnisform verstanden wird, das wird als „eines“ erkannt; was aber durch mehrere Erkenntnisformen vertreten ist, das wird nicht zugleich erkannt. Nun sehen die Engel zunächst im „Worte“ alles als in einer Erkenntnisform; und danach erkennen sie alles zugleich. Denn dann werden auch (Aug. 15. de Trin. 16.) „unsere Gedanken nicht mehr flüchtig sein, daß wir von dem einen zum anderen gelangen müssen, wenn wir in der Heimat sein werden; all unser Wissen werden wir dann zugleich mit einem Blicke vor uns haben“. Kommt aber jenes Wissen in Betracht, welches die Engel kraft ihrer von Natur aus eingeprägten Ideen haben, so verstehen sie alles das zugleich, was sie durch eine Idee oder eine Erkenntnisform erkennen.
c) I. Viele Dinge als ein Ganzes verstehen ist gewissermaßen dasselbe wie „eines“ verstehen. II. Die Vernunft wird durch die Idee geformt. Und somit kann sie durch eine einzige Idee vieles zugleich verstehen, wie ein Körper durch eine einzige Figur zugleich vielen Körpern ähnlich sein kann. III. Vom dritten Einwurfe gilt dasselbe wie vom ersten.
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