Erster Artikel. Das Begehrungsvermögen im allgemeinen.
a) Ein besonderes Begehrungsvermögen scheint es nicht zu geben. Denn: I. Begehren ist gemeinsam den beseelten und unbeseelten Wesen. Also bedarf es dafür in den ersteren keines besonderen Vermögens. II. Vermögen werden angenommen nach Maßgabe der Gegenstände. Ein und denselben Gegenstand aber erkennen und begehren wir. Also bedarf es nicht neben den auffassenden Vermögen einer besonderen Begehrkraft. III. Was jedem Vermögen gemeinsam ist, darf nicht einem besonderen Vermögen zugeeignet werden. Jedes Vermögen aber hat Begehren nach seinem entsprechenden Gegenstande. Auf der anderen Seite unterscheidet Aristoteles (7. de anima) das Begehrungsvermögen von allen anderen; ebenso Damascenus. (2. de orth. fide cap. 22.)
b) Ich antworte, es sei notwendig, daß man ein besonderes Vermögen als Begehrkraft annehme. Jeder Form nämlich haftet eine Hinneigung an; das Feuer z. B. strebt nach oben und jegliches zeugt etwas sich ähnliches. In denjenigen Wesen aber, welche Erkenntnis haben, steht die maßgebende Form im Sein höher wie in denen, die keine Erkenntnis haben. Denn in den letzteren findet sich nur eine Form, durch welche das eigene Sein bestimmt wird, dasjenige Sein nämlich, welches zur Natur eines jeden Dinges gehört; und deshalb wird die dementsprechende Hinneigung natürliches Begehren genannt. Unter den erkennenden Dingen aber wird jegliches durch die Form für das Sein seiner Natur in der Weise bestimmt, daß es auch die Formen anderer Dinge, respektive deren allgemeine Gattungsformen in sich aufnehmen kann; wie die Sinne in sich aufnehmen die Formen aller sichtbaren Dinge und die Vernunft die Wesensformen aller geistig erkennbaren. Und so wird die Seele des Menschen gewissermaßen Alles gemäß der Sinnenthätigkeit und dem Vernunftvermögen. Darin haben die erkennenden Wesen eine höhere Ähnlichkeit mit Gott, welcher alles Sein von vornherein in sich enthält. Gleichwie also die Formen in hervorragenderer Weise in den erkennenden Wesen sind wie in den rein körperlich natürlichen, so muß auch in diesen selben erkennenden Wesen eine Hinneigung bestehen, welche jene rein mit der Natur gegebene weitaus überragt. Und diese hervorragendere Hinneigung findet ihren Ausdruck und ihren Sitz in der Begehrungslraft der Seele, vermöge deren die Seele begehren kann das, was sie mit den Sinnen ober mit der Vernunft erfaßt und nicht nur wozu der natürliche Drang sie treibt. So also muß man ein Begehrungsvermögen der Seele annehmen.
c) I. „Begehren“ findet sich in den erkennenden Wesen über die Art und Weise hinaus, wie es sich in allen rein natürlichen Dingen findet. Und deshalb bedarf es da eines eigenen Vermögens. II. Der Grund, weshalb ein und dasselbe Ding erkannt wird, ist ein anderer wie der, weshalb es begehrt wird. Erkannt wird es, weil es sinnlich wahrnehmbar oder vernünftig erkennbar ist; begehrt, weil es zukömmlich oder ein Gut ist. Und danach ist die Verschiedenheit der Vermögen nicht gemäß dem materiellen Gegenstande. III. Jedes Vermögen ist eine Natur oder Form und hat danach eine mit der Natur gegebene Hinneigung zu dem ihm entsprechenden Gegenstande. Darüber aber steht das Begehren der Seele, welches der Auffassung folgt; wonach etwas nicht begehrt wird, weil es diesem oder jenem Vermögen naturgemäß zukömmlich ist wie z. B. dem Auge, sondern weil es zum Wohle des ganzen sinnbegabten Wesens beiträgt.
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