Zweiter Artikel. Das sinnliche Begehrungsvermögen ist ein anderes Vermögen wie das vernünftige, der Wille.
a) Dagegen spricht: I. Für das Begehrungswerte ist es zufällig und äußerlich, daß es mit den Sinnen aufgefaßt wird oder mit der Vernunft. Etwas Zufälliges und Äußerliches aber macht keine Verschiedenheit in den Vermögen. II. Die vernünftige Kenntnis richtet sich auf das Allgemeine und ist demgemäß unterschieden von der sinnlichen, die sich auf das Besondere oder Einzelne richtet. Dieser Unterschied kann aber keinen Einfluß haben auf das Begehrenswerte, da das Begehren von der Seele auf die Dinge geht und diese immer als besondere einzeln bestehende begehrt werden. III. Von der Auffassung hängt die Begehrungskraft ab als das niedrigere Vermögen und ebenso die bewegende Kraft. Letztere aber ist immer dieselbe; mag sie der Vernunft folgen oder den Sinnen, wie das in den Menschen erscheint, die sich zum Teil von den Sinnen und zum Teil von der Vernunft leiten lassen. Also ist auch die Begehrungskraft ein und dieselbe. Auf der anderen Seite unterscheidet Aristoteles ein höheres Begehren und ein niedrigeres. (3. de anima.)
b) Ich antworte, es sei durchaus eine Notwendigkeit, daß die vernünftige Begehrkraft verschieden sei von der sinnlichen. Denn das Begehren ist an und für sich ein „leidendes“ Vermögen, dem es von Natur zueignet, vom Aufgefaßten bewegt und bestimmt zu werden. Daher nennt Aristoteles das Begehrungswerte ein Bewegendes, welches nicht in Bewegung ist; das Begehrende aber ein Bewegendes, welches in Bewegung gesetzt worden. (3.de anima; 11 Metaph.) Die „leidenden“ und „beweglichen“ Vermögen aber werden unterschieden gemäß dem Unterschiede der thätigen und bewegenden Kräfte. Denn das Bewegliche und Leidende muß im Verhältnisse stehen zum Bewegenden und Bestimmenden; und die Natur des leidenden Vermögens hat ihre Richtschnur in der Seinsweise desjenigen, von dem seine Bethätigung kommt. Eine andere Art Auffassung nun ist die in der Vernunft geregelte und die im Sinne; also ist das vernünftige Begehrvermögen ein anderes wie das sinnliche.
c) I. Es ist für das Begehrungswerte keineswegs äußerlich und zufällig, daß es vom Sinne aufgefaßt ist oder von der Vernunft; das kommt ihm nämlich seiner inneren Natur nach zu. Denn seiner Natur entspricht es zu bewegen oder zu bestimmen. Es bewegt oder bestimmt aber nur, insoweit es aufgefaßt ist. Also gerade danach giebt es zwei Begehrkräfte, je nach dem sie gemäß der Auffassung der Vernunft begehren oder gemäß der Auffassung der Sinne. II. Die vernünftige Begehrkraft richtet sich auf die einzelnen Dinge gemäß deren allgemeiner Natur; sie begehrt ein einzelnes Gut, weil es den Charakter des Guten überhaupt trägt. Deshalb sagt Aristoteles (Rhetor. lib. 2. cap. 4.), daß der Haß etwas Allgemeines betreffen kann, wie wenn wir das ganze Räuberwesen und damit alle Räuber hassen. Auch die stofflosen Dinge begehren wir durch den vernünftigen Willen, die der Sinn nicht erfaßt; wie das Wissen, die Tugend u. dgl. III. Die allgemeine Auffassung bewegt nur (3. de anima) vermittelst der besonderen; und ähnlich bewegt das höhere Begehren nur vermittelst des niedrigeren. Deshalb ist es ein und dieselbe bewegende Kraft, welche der Vernunft folgt und die den Sinn begleitet.
