Vierter Artikel. Der Wille bewegt die Vernunft.
a) Das Gegenteil zeigen folgende Gründe: I. Das Bewegende steht höher im Sein wie das Bewegliche; und das Bethätigende ist besser wie das Leidende, (Aug. 12. sup. Gen. ad litt. 16.; Arist. 3. de anima.) Die Vernunft aber steht höher im Sein wie der Wille. Also bewegt er nicht die Vernunft. II. Das Bewegende wird nur zufällig, d. h. auf Grund äußerer Verhältnisse, von einem Sein bewegt, welches selber in Bewegung ist. Denn soll a von b bewegt werden, weil b von a bewegt wird; so ist dies ein Unsinn. Die Vernunft aber bewegt den Willen. Denn das Begehrenswerte, insoweit die Vernunft es auffaßt, ist das Bewegende, was nicht selber in Bewegung ist; während das Begehren bereits in Bewegung sich befindet. Also nicht der Wille bewegt die Vernunft. III. Wir können nichts wollen außer soweit es aufgefaßt ist. Wenn also zum Erkennen hin der Wille bewegt, weil er verstehen will, so muß diesem Willen ein anderes Erkennen vorausgehen und diesem Erkennen wieder ein anderes Wollen u. s. w. bis ins Endlose. Auf der anderen Seite sagt Damascenus (2. de orth. fide 16.): „An uns liegt es, welche Kunst auch immer aufzufassen oder nicht aufzufassen.“ Was aber an uns liegt, das beruht auf unserem Willen; eine Kunst auffassen dagegen kommt der Vernunft zu.
b) Ich antworte, daß von einem Dinge in doppelter Beziehung aus gesagt wird, es setze in Bewegung: einmal wie ein vorgelegter Zweck bewegt und bestimmt; und in dieser Weise bewegt die Vernunft den Willen, denn das von der Vernunft aufgefaßte Gut ist der Gegenstand und bewegt diesen als der Zweck. Dann aber wird vom Ausführenden und thatsächlich Einwirkenden ausgesagt, er setze in Bewegung; wie die Wärme z. B. bewegt, welche den Zustand eines Dinges ändert oher jener, welcher den Stein weiter treibt; — und in dieser Weise bewegt der Wille die Vernunft und alle anderen Seelenkräfte, wie Anselmus sagt in lib. de similitudinibus. Der Grund davon ist folgender. In allen wirksamen Vermögen geht von jenem der erste Anstoß zur Bewegung aus, welches den allen gemeinsamen Zweck berücksichtigt; und dieses setzt dann in Bewegung jene Vermögen, welche auf besondere Zwecke gerichtet sind. So bewegt im Bereiche der Natur die Gesamtheit der Himmelskörper, die auf die Erhaltung des ganzen, dem Entstehen und Vergehen unterworfenen Seins gerichtet ist, alle diese niedrigen Körper, von denen ein jeder nur seine Gattung oder sein einzelnes Sein erhalten will. Ebenso setzt im Bereiche des bürgerlichen Lebens der König, welcher das Gesamtbeste zu besorgen hat, in Bewegung alle Vorsteher der besonderen Gemeinwesen. Der Gegenstand des Willens nun ist das Gesamtgute und der Gesamtzweck, wogegen jegliches Vermögen jenes besondere Gut nur berücksichtigt, das ihm allein zukömmlich ist; wie z. B. das Auge die Farbe, die Vernunft das Wahre. Der Wille also bewegt als einwirkende, treibende Ursache alle Seelenvermögen zu ihren Thätigkeiten hin, ausgenommen die natürlichen Kräfte der Nährseele, welche unter unserer freien Wahl nicht stehen.
c) I. Die Vernunft kann in doppelter Weise betrachtet werden: einmal insofern sie das Sein und das Wahre im allgemeinen zum Gegenstande ihrer Auffassung hat; dann, insofern sie ein besonderes Wesen und ein besonderes Vermögen ist mit einer besonderen, bestimmten Thätigkeit. Ähnlich kann der Wille in doppelter Weise betrachtet werden: einmal gemäß der Allgemeinheit seines Gegenstandes, da er auf das Gute im allgemeinen sich richtet; dann als ein eigenes besonderes Vermögen mit eigener besonderer Thätigkeit. Wird nun sowohl der Wille wie die Vernunft erwogen nach der ersten Betrachtungsweise, in der Allgemeinheit nämlich ihres betreffenden Gegenstandes, so ist die Vernunft ohne weiteres höher und edler wie der Wille. (Art. 3.) Wird ferner die Vernunft mit Rücksicht auf die Allgemeinheit ihres Gegenstandes genommen und der Wille als eigenes besonderes Vermögen, so ist desgleichen die Vernunft höher und edler; denn unter dem „Sein“'und „Wahren“, dem Gegenstande der Vernunft, ist auch enthalten das Willensvermögen selbst als ein Sein und ein Wahres und ebenso seine Thätigkeit und sein Gegenstand. Deshalb erfaßt die Vernunft ebensogut den Willen und dessen Thätigkeit sowie dessen Gegenstand, wie auch die anderen besonderen Erkenntnisgegenstände; den Stein z. B. und das Holz, die da ebenfalls Sein und Wahrheit haben. Wenn jedoch der Wille mit Rücksicht auf seinen allgemeinen Gegenstand genommen wird, mit Rücksicht auf das Gute nämlich; die Vernunft aber als ein besonderes Gut und ein besonderes Vermögen, sowie auch deren Thätigkeit und deren Gegenstand als ein besonderes Gut, was enthalten ist im Guten im allgemeinen; so ist der Wille höher als die Vernunft und danach bewegt er diese letztere. So also erscheint der Grund, weshalb diese beiden Vermögen ihre Thätigkeiten gegenseitig einschließen; denn die Vernunft erkennt das Wollen des Willens und der Wille will das Erkennen, der Vernunft. Und ähnlich ist das Gute im Wahren enthalten als etwas Wahres, wie das Wahre im Guten enthalten ist als ein besonderes eigenes Gut. II. Die Vernunft bewegt in anderer Weise den Willen wie dieser die Vernunft; wie dies im Artikel gesagt worden. III. Es giebt hier keinen Fortgang ins Endlose; sondern man bleibt stehen in der Vernunft als im Ersten. Denn jeder Willensbewegung muß vorausgehen die Auffassung; nicht aber aller Auffassung geht vorher eine Willensbewegung. Das erste Princip des Erfassens und des Erwägens nämlich ist eine höhere Vernunft als die unsrige, wir meinen Gott.
