Dritter Artikel. Die Natur der Vernunft steht höher wie die des Willens.
a) Dem scheint nicht so zu sein. Denn: I. Der Zweck und das Gute ist der Gegenstand des Willens. Der Zweck aber ist die höchste unter den Ursachen. Also ist der Wille das höchste unter den Vermögen. II. Vom Unvollkommenen gelangen die Dinge im Bereiche der Natur zum Vollkommenen; vom Sinne wird fortgeschritten zur Vernunft. Die Thätigkeit der Vernunft aber dient der Thätigkeit des Willens, dem sie den Gegenstand vorstellt, damit dieser nun alle übrigen Vermögen in Bewegung setze. Also ist der Wille ein höheres Vermögen wie die Vernunft. III. Die Zustände in den Vermögen entsprechen der Würde und dem Range des Vermögens. Die Liebe aber, welche ein Zustand im Willen ist, steht als die höchste Tugendkraft da; wie es 1. Kor. 13. heißt: „Wenn ich alle Geheimnisse kennte und allen Glauben hätte; die Liebe aber nicht habe, so bin ich nichts.“ Auf der anderen Seite weist Aristoteles unter den Vermögen den ersten Platz der Vernunft an.
b) Ich antworte; der Rang und die Würde eines Vermögens im Verhältnisse zum anderen kann berücksichtigt werden: 1. kraft der Natur, die ein jedes hat, simpliciter; und 2. nach einer gewissen Seite nur hin, secundum quid, insoweit nämlich das eine Beziehung hat zum anderen. Wird das erste erwogen, so ist ohne weiteres die Vernunft höher wie der Wille. Denn die Natur eines Vermögens wird bemessen nach dessen Gegenstände. Der Gegenstand der Vernunft ist nun einfacher, umfassender und unbedingter wie der des Willens. Denn der Gegenstand der Vernunft ist der innere Grund im Begehrenswerten, warum es eben begehrenswert ist; der Wille aber richtet sich auf das begehrenswerte Gut, dessen Grund in der Vernunft ist. Je einfacher, unbedingter und vom Einzelnen losgelöster aber etwas ist, desto höher steht es im Range und in der Würde seines Seins. Also ist seiner Natur nach das Vermögen der Vernunft edler und erhabener wie das des Willens. Wird jedoch die Vernunft, so wie sie jetzt in uns ist, mit dem Willen verglichen, so trifft es sich zuweilen, daß letzterer im Range höher steht; nämlich deshalb, weil der Gegenstand des Willens in einem höheren Sein gefunden wird, wie der Gegenstand der Vernunft. So würde ich sagen können, das Gehör stehe höher wie das Gesicht, weil der Gegenstand, von dem ich höre, erhabener ist wie die Farbe; obgleich bei Berücksichtigung der einfachen Natur die Farbe höher steht im Sein und allgemeiner ist wie der Ton. Gemäß der Thätigkeit der Vernunft nämlich ist der innere maßgebende Grund des verstandenen Dinges im Erkennenden; die Thätigkeit des Willens aber wird dadurch vollendet, daß derselbe hingeneigt wird zur Sache selber, wie sie im wirklichen Sein sich vorfindet. Deshalb sagt Aristoteles (6 Metaph.): „Das Gute und Böse ist in den Dingen; das Wahre und Falsche in der Vernunft.“ Steht also das wirkliche Sein, in welchem das Gute als Gegenstand der Vernunft sich findet, höher da wie die Seele selbst, in welcher der aufgefaßte Seinsgrund vorhanden ist, so steht in diesem Falle mit Rücksicht auf eine solche Wirklichkeit der Wille höher wie die Vernunft. Ist aber die begehrte Sache niedriger wie die Seele, so ist auch nach dieser Seite hin die Vernunft höher wie der Wille. Deshalb ist Gott zu lieben besser, als Gott nur zu kennen; und umgekehrt ist es besser, die körperlichen Dinge nur zu kennen als sie zu lieben.
c) I. Ursache ist etwas mit Rücksicht auf ein Anderes; und nach dieser Seite hin, im Falle eines solchen Vergleichs, ist die Natur des Guten hervorragender. Das Wahre aber ist entfernter von den Schranken des Einzelnen und drückt den inneren Grund des Guten selber aus. Jedoch ist andererseits das Wahre selber ein Gut; und danach ist die Vernunft ein gewisses Wesen und das Wahre ist der Zweck dieses Wesens. Dieser Zweck aber wieder ist unter allen Zwecken der hervorragendste; wie dies die Vernunft ist unter allen Vermögen. II. Was der Zeit und dem Entstehen nach früher ist, das ist unvollkommener. Denn in ein und demselben Dinge ist zuerst das Vermögen zu etwas und dann die Thätigkeit; und zuerst das Unvollendete, später das Vollendete. Dem Wesen oder der inneren Natur nach aber ist früher das Vollendete und Einfachere; die Thätigkeit ist früher wie das Vermögen, denn wegen der Thätigkeit ist das Vermögen da. Und so ist die Vernunft früher wie der Wille, wie das Bewegende dem Beweglichen vorhergeht und das Thätige dem Leidenden; denn soweit das Gute aufgefaßt ist von der Vernunft, bewegt es den Willen. III. Durch die Liebe hängen wir Gott an, der über die Seele hinaus erhaben ist; und deshalb ist da der Wille besser wie die Vernunft.
