Erster Artikel. Unsere Vernunft erkennt dadurch, daß sie die Wesenheiten der körperlichen Dinge loslöst von den Phantasiebildern.
a) Dem steht entgegen: I. Die Vernunft, welche ihren Gegenstand anders versteht wie er ist, wird falsch genannt. Die Wesensformen der stofflichen Dinge bestehen aber nicht in der Wirklichkeit als von den Einzelheiten losgelöste, deren Abbilder und Ähnlichkeiten die Phantasiegebilde sind. Also ist in unserer Vernunft etwas Falsches, wenn wir die stofflichen Dinge auffassen dadurch, daß wir ihre Wesensformen loslösen von den Phantasiebildern. II. In die Begriffsbestimmung der stofflichen Dinge als Glieder der Natur tritt der Stoff ein. Nichts aber kann verstanden werden ohne das, was in seine Begriffsbestimmung eintritt. Die stofflichen Dinge also können nicht verstanden werden, wenn man vom Stoffe absieht. Nun ist gerade der Stoff das Princip für den Einzelbestand eines Dinges als solchen. Also dadurch daß man vom Besonderen absieht und nur das Allgemeine berücksichtigt, wird es unmöglich, im eigentlichen Sinne die stofflichen Dinge zu erkennen. III. Aristoteles sagt (3. de anima): „Die Phantasiebilder verhalten sich zur vernünftigen Seele, wie die Farben zur Sehkraft.“ Das Sehen aber geschieht nicht dadurch, daß man die Lichtbilder von den Farben loslöst, sondern dadurch, daß die Farben in die Sehkraft die erforderliche Form einprägen. Also vollzieht sich auch das vernünftige Erkennen nicht dadurch, daß etwas von den Phantasiebildern losgelöst wird, sondern daß letztere die Erkenntnisform einprägen. IV. In der vernünftigen Seele findet sich die „mögliche“ Vernunft und die „einwirkende“. Der ersteren nun kommt es nicht zu, die allgemeinen Wesensformen von den Phantasiebildern loszulösen, sondern vielmehr die bereits losgelösten Wesensformen in sich aufzunehmen. Die „einwirkende“ Vernunft aber verhält sich zu den Phantasiebildern wie das Lichtzu den Farben, von denen dieses nichts loslöst, sondern vielmehr ihnen etwas mitteilt. Also gehört es auch der „einwirkenden“ Vernunft nicht zu, die Ideen von den Phantasiebildern loszulösen. V. Aristoteles sagt (3. de anima): „Die Vernunft erkennt die Ideen in den Phantasiebildern“; nicht also indem sie selbige loslöst. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „In dem Grade daß die Dinge trennbar sind vom Stoffe, treten sie der Vernunft nahe.“ Also werden die körperlichen Dinge nur verstanden, insofern sie losgelöst sind vom Stoffe und von den Ähnlichkeiten des Stofflichen, welche wir Phantasiebilder nennen.
b) Ich antworte, daß der Erkenntnisgegenstand der Beschaffenheit des Erkenntnisvermögens entspricht. In dem Erkenntnisvermögen aber giebt es eine dreifache Abstufung. Denn eine Art Erkenntnisvermögen ist die Thätigkeit eines körperlichen Organs; das ist der Sinn. Der Erkenntnisgegenstand des Sinnes ist sonach eine Form, einzig und allein insofern sie im Stoffe existiert. Und weil der Stoff das Princip alles Einzelseins als Einzelseins ist; deshalb erkennt jegliches sinnliche Erkenntnisvermögen nur immer das Einzelne, Besondere. Eine andere Art Erkenntnisvermögen ist weder die Thätigkeit eines stofflichen Organs noch hat es irgendwie die Thätigkeit eines solchen zur Voraussetzung; das ist die Engelvernunft. Deren Gegenstand also ist die Wesensform, insoweit selbige ohne jeglichen Stoff subsistiert. Denn wenn die Engel auch das Stoffliche erkennen; sie schauen es doch nur im Unstofflichen: entweder in sich selber oder in Gott. Die menschliche Vernunft aber steht in der Mitte. Sie ist nicht die Thätigkeit eines irgend welchen Organs; jedoch ist sie eine Kraft jener Seele, welche die Wesensform eines Körpers ausmacht. Und deshalb ist es ihr eigen, die allgemeinen Wesensformen zwar zu erkennen, die im Stoffe Einzelbestand haben; nicht aber insoweit sie in solchem Stoffe einzelne sind. Erkennen aber was im Stoffe Einzelbestand hat, nicht aber insofern es da einzeln ist; heißt nichts anderes als die allgemeine Wesensform loslösen vom einzelnen Stoffe, welchen die Phantasiebilder vertreten und vorstellen. Wir also lösen das Allgemeine von den Phantasiebildern los, erkennen in dieser Weise das Stoffliche und gelangen vermittelst des Stofflichen zu etwelcher Kenntnis des Unstofflichen. Die Engel aber erkennen umgekehrt das Stoffliche durch das Unstoffliche. Plato nun, der nicht darauf acht gab, daß die Vernunft mit dem Körper in gewisser Weise verbunden ist, sondern nur auf die Unstofflichkeit der Vernunft blickte; nahm als Gegenstand der Vernunft in stofflosem Sein für sich bestehende Substanzen oder Ideen an; und demgemäß würden wir nicht verstehen, indem wir das Unstoffliche loslösen, sondern vielmehr, indem wir selber am Stofflosen teilnehmen.
c) I. Loslösen oder etwas Abstrahieren geschieht in zweifacher Weise: Einmal im Zusammensetzen und Trennen; wie wenn wir verstehen, daß etwas in einem anderen sei oder von ihm getrennt sei. Dann im Wege der Vereinfachung, wie wenn wir etwas von einem Dinge erkennen und das andere beiseite lassen. Geschieht es also, daß wir in der ersten Weise miteinander Dinge oder Eigenschaften verbinden oder voneinander trennen, welche in Wirklichkeit nicht miteinander verbunden oder nicht voneinander getrennt sind; so findet das nicht statt, ohne etwas Falsches einzuschließen. Loslösen oder abstrahieren aber in der zweiten Weise, daß wir etwas beiseite lassen, was in der That mit dem Dinge verbunden ist; das führt zu nichts Falschem. Das erscheint bereits offenbar im Bereiche des Sinnlichen. Denn wenn wir (nach der ersten Weise) z. B. die Farbe vom Apfel loslösen und sagen, der Apfel habe keine Farbe; so ist dies falsch. Das ist aber nicht der Fall, wenn ich (nach der zweiten Weise) loslöse und sage: ich betrachte bloß die Farbe des Apfels und ihre Eigentümlichkeit, nicht aber den Apfel selber; denn der Apfel gehört nicht zur Natur der Farbe; ich kann also die Farbe des Apfels ihrer Natur nach für sich betrachten. Und so sage ich, ich kann die Natur des Steines z. B. oder des Pferdes oder jedes stofflichen Dinges für sich betrachten ohne die Principien des Einzelseins; denn die Principien des Einzelseins gehören nicht zum Wesen der allgemeinen Gattung oder Natur. Und nichts Anderes bedeutet das Loslösen der allgemeinen Idee von den Besonderheiten und Einzelheiten der Phantasiebilder als das Wesen der Gattung für sich betrachten ohne die stofflichen Einzelheiten von Zeit, Ort, Ausdehnung etc., die in diesem Wesen nicht eingeschlossen sind. Soll also der Ausdruck, „die Vernunft verstehe die Dinge anders wie sie sind,“ heißen, sie verstehe die Dinge so und in Wirklichkeit sind sie anders; so ist eine solche Vernunft falsch. So würde es der Fall sein, wenn ich sagen wollte, die Wesensform des Steines ist außen in der Wirklichkeit stofflos und getrennt von den Einzelheiten des Steines; dann würde ich etwas Anderes verstehen und etwas Anderes würde außen Wirklichkeit haben. So aber ist dies hier nicht. Vielmehr hat hier das Ding eine andere Seinsweise in der Vernunft, nämlich eine allgemeine, stofflose; und eine andere in der Wirklichkeit, nämlich eine einzelne, stoffliche. Aber eben dasselbe Ding was außen ist verstehe ich wie es da ist, weil es in meiner Vernunft in einer derselben angemessenen, in stoffloser Weise ist. II. Manche meinten, der Stoff gehöre nicht zur Wesensgattung eines Dinges, sondern nur die Form. Danach aber wären alle Begriffsbestimmungen der sichtbaren Dinge falsch, in welche der Stoff einträte. Also ist folgendermaßen zu antworten. Der Stoff kann in doppelter Weise betrachtet werden: als allgemeiner, wie z. B. Fleisch, Knochen; und als einzelner oder bereits bezeichneter, wie dieses Fleisch hier, diese Knochen. Die Vernunft nun löst die Wesensgattung vom einzelnen Stoffe, wie z. B. den Menschen von diesem Fleische und diesen Knochen; nicht aber vom allgemeinen Stoffe, vom Fleische und von den Knochen überhaupt; — denn in den Begriff des Menschen tritt es ein, daß er Fleisch und Knochen hat. Die mathematischen Größen aber sehen ab nicht allein vom einzelnen Stoffe, sondern auch vom Stoff im allgemeinen; soweit der sinnlich wahrnehmbare Stoff in Betracht kommt. Sie sehen aber nicht ab vom Stoffe als von etwas im allgemeinen Erkennbaren. Denn der Stoff wird als sinnlich wahrnehmbar bezeichnet, soweit er den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, dem Kalten und Warmen, dem Harten und Weichen untersteht. Und er wird als Gegenstand der Vernunft, als geistig erkennbar bezeichnet, soweit er nur dem Umfange untersteht. Nun ist es aber offenbar, daß der Stoff vorher dem Umfange untersteht, ehe er die besagten Eigenschaften trägt. Sonach können die verschiedenen Quantitäten, wie Zahl, Umfang, Figur oder im allgemeinen wie alle Grenzen der Quantität, ganz wohl für sich betrachtet werden, ohne Rücksicht zu nehmen auf den sinnlichen Stoff, also auf das Warme, Kalte etc. Und das will sagen, sie loslösen oder abstrahieren von dem sinnlich wahrnehmbaren Stoffe. Sie können aber nicht betrachtet werden, ohne Rücksicht zu nehmen auf das Verständnis der Substanz, insofern diese dem Umfange untersteht; was da wäre: sie loslösen oder absehen vom Stoffe als von etwas im allgemeinen Erkennbaren. Dagegen können sie wohl betrachtet werden, ohne Rücksicht zu nehmen auf diese oder jene Substanz; was da ist: absehen vom Stoffe als von etwas im besonderen und einzelnen Erkennbaren. Nur Begriffe wie Sein, Einheit, Vermögen, Akt u. dgl. können losgelöst werden von aller Art und von aller Betrachtungsweise des Stoffes, wie dies ja bei den stofflosen Substanzen geschieht. Und weil Plato die doppelte, eben auseinandergesetzte Art und Weise dieses Loslösens oder Abstrahierens nicht beachtete, nahm er an, daß Alles, von dem wir mit Hilfe der Vernunft absehen, auch in Wirklichkeit getrennt sei. III. Die Farben haben die nämliche Existenzweise in dem einzelnen Stoffewie in der Sehkraft; und deshalb können sie ihre Ähnlichkeit dem Gesichtssinne einprägen. Die Phantasiebilder, die das Einzelne und Besondere als solches darstellen und an ein stoffliches Organ gebunden sind, haben aber nicht dieselbe Existenzweise wie die menschliche Vernunft; und deshalb können sie letzterer ihre Form nicht einprägen. Kraft der „einwirkenden“ Vernunft jedoch, die sich den Phantasiebildern zuwendet, ergiebt sich eine Ähnlichkeit oder eine Idee in der „möglichen“ Vernunft mit Rücksicht allein auf das Wesen der Gattungsnatur des Gegenstandes, dem das Phantasiebild angehört. Nicht also in der Weise soll dieses Loslösen oder Abstrahieren verstanden werden, als ob ein und dieselbe Form der Zahl nach, die vorher in den Phantasiebildern war, nachher in der „möglichen“ Vernunft sich vorfände; wie wenn ein Körper von einem Orte zum anderen getragen würde. IV. Die Phantasiebilder werden 1. erhellt von der „einwirkenden“ Vernunft; und 2. werden von ihnen durch diese selbe Vernunft die geistigen allgemeinen Wesensformen losgelöst. Sie werden erhellt; denn wie durch die Verbindung mit der Vernunft der sinnliche Teil kraftvoller wird, so werden kraft der „einwirkenden“ Vernunft die Phantasiebilder geeignet, daß von ihnen die Ideen losgelöst werden. Die „einwirkende“ Vernunft löst los, insofern durch ihre Kraft wir in unserer Erwägung gegenwärtig haben die Naturen der stofflichen Wesensgattungen ohne die stofflichen Einzelheiten und insofern durch die entsprechenden Ähnlichkeiten die „mögliche“ Vernunft geformt wird. V. Unsere Vernunft löst los die Ideen von den Phantasiegebilden, insoweit sie die allgemeinen Naturen der Dinge betrachtet, und trotzdem erkennt sie diese Naturen in den Phantasiebildern; denn sie kann nicht thatsächlich verstehen das, wovon sie das allgemeine Gattungsbild loslöst, ohne sich zu den Phantasiegebilden zu wenden.
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