Achter Artikel. Das Urteil der Vernunft wird gehindert durch das Gebundensein der Sinne.
a) Ein solches Hindernis scheint unmöglich zu sein. Denn: I. Das Höhere wird nicht gehindert durch das Niedrigere. Das Urteil der Vernunft aber steht über den Sinnen. Also. II. Schließen vom einen auf das andere ist Sache der Vernunft. Im Schlafe aber ist der Sinn gebunden, (Arist. de somno et vigil. cap. 1.) Trotzdem trifft es sich jedoch, daß der Schlafende vom einen auf das andere schließt. Auf der anderen Seite sagt Augustin (12. sup. Gen. ad litt. 15.): „Was im Schlafen gegen die erlaubten Sitten geschieht, wird nicht als Sünde angerechnet.“ Das aber fände statt, wenn der Mensch im Schlafen den freien Gebrauch des Urteils und der Vernunft hätte.
b) Ich antworte, daß der eigenste Gegenstand unserer vernünftigen Erkenntnis die Natur der sichtbaren Dinge ist. Ein vollkommenes Urteit aber kann über eine Sache nicht gefällt werden, wenn nicht Alles gekannt wird, was zu ihr gehört, und zumal wenn man darüber in Unkenntnis sich befindet, was als Zweck und Abschluß des Urteils betrachtet werden muß. Aristoteles aber schreibt (3. de coelo): „Wie der Zweck der wirkenden Kunst und Wissenschaft das Werk ist, so ist der Zweck und Abschluß der Naturwissenschaft das, was so recht eigentlich gemäß den Sinnen gesehen wird.“ Denn der Schmied sucht nicht nach der Kenntnis des Messers, außer auf Grund des Werkes, damit er nämlich dieses einzelne besondere Messer mache. Und der Naturgelehrte sucht nicht nach der Kenntnis des Steines und des Pferdes, außer damit er wisse, worin der innere Seinsgrund jener Steine und Pferde besteht, welche unter die Sinne fallen. Es ist aber offenbar, daß der Schmied ein ausreichendes, allseitig vollendetes Urteil über das Messer nicht fällen könnte, wenn er in Unkenntnis wäre über die einzelnen Verhältnisse, für die das Messer dienen soll oder dient. Und kennt der Naturgelehrte die einzelnen sichtbaren Dinge nicht, so kann er über dieselben kein maßgebendes Urteil haben. Da wir nun aber in diesem gegenwärtigen Zustande unserer Vernunft nur erkennen kraft der beständigen Rücksichtnahme auf die Dinge der sichtbaren Natur, so ist ein ausreichendes Urteil der Vernunft nicht denkbar, wenn die Sinne gebunden sind, durch welche wir das Sichtbare als solches auffassen.
c) 1. Allerdings steht die Vernunft höher als der Sinn; jedoch geht ihre Thätigkeit gewissermaßen vom Sinne aus und empfängt etwas von dieser Seite her. II. Der Sinn ist in den Schlafenden gebunden wegen mannigfacher Ausdünstungen und wegen sich auflösender Feuchtigkeiten, wie Aristoteles sagt in de somno et vigil. cap. 1. et 3. Danach also ist der Sinn mehr oder weniger gebunden. Wenn die innere Ausdünstung sehr stark ist, so wird nicht nur der äußere Sinn gebunden, sondern auch die Einbildungskraft; und es erscheinen dann keinerlei Phantasiebilder in der Einbildungskraft. Dies trifft zu in erster Linie, wenn jemand zu schlafen anfängt, nachdem er viel gegessen und getrunken hat. Ist jedoch die Ausdünstung weniger nachhaltig, so erscheinen verdrehte und ungeordnete Phantasiebilder wie bei den Fieberkranken. Und ist die Bewegung der aufsteigenden Dünste noch mäßiger, so erscheinen ordnungsgemäße Phantasiegebilde; wie das am meisten am Ende des Schlafes eintrifft, bei nüchternen Menschen und bei solchen, die eine starke Einbildungskraft haben. Und ist die besagte Bewegung eine im höchsten Grade mäßige, so bleibt nicht nur die Einbildungskraft gelöst, sondern auch der „Gemeinsinn“ wird frei; so daß der Mensch bisweilen im Schlafen urteilt, das, was er sieht, sei ein Traumgebilde, als ob er gleichsam wirklich urteile und scheiden würde zwischen den wirklichen Dingen und deren Ähnlichleiten. Jedoch bleibt der „Gemeinsinn“ immer zum Teil gebunden. Und er wird deshalb, wenn er auch manche Ähnlichkeiten von den Dingen der Wirklichkeit unterscheidet, immer in Einigem getäuscht. Soweit also der Sinn und die Einbildung gelöst wird während des Schlafes, soweit wird frei das Urteil der Vernunft; niemals aber ist die Lösung eine vollständige. Wer sonach im Schlafe von einem auf das andere geschlossen hat und aufgeweckt wird, findet immer, er habe sich in etwas getäuscht.
