Erster Artikel. Unsere Vernunft erkennt nicht das Einzelne und Besondere.
a) Dem steht entgegen: I. Unsere Vernunft bildet den Satz: Sokrates ist Mensch. Also kennt sie, was „Mensch“ heißen will und was „Sokrates“ bedeutet. Sokrates aber ist ein Einzelwesen. II. Die praktisch wirksame Vernunft ist die Richtschnur unserer Handlungen, die ja doch immer mit Einzelnem und Besonderem sich beschäftigen. III. Unsere Vernunft erkennt sich selbst; d. h. sie erkennt etwas Einzelnes. IV. Der Sinn bereits erkennt das Einzelne; also thut dies auch die Vernunft als die höhere Erkenntniskraft. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1 Physic.): „Das Allgemeine ist Gegenstand der Vernunft; das Besondere und Einzelne Gegenstand des Sinnes.“
b) Ich antworte, daß unsere Vernunft unmittelbar und als ersten Erkenntnisgegenstand das Einzelne nicht erkennen kann. Denn das Princip des Einzelnen in den stofflichen Dingen ist der Stoff. Unsere Vernunft aber versteht eben dadurch, daß sie die Idee loslöst vom Stoffe und somit das Allgemeine sich als Gegenstand gegenwärtig hält. Also nur das Allgemeine ist erster und eigentlicher Erkenntnisgegenstand. Mittelbar jedoch erkennt sie das Einzelne. Denn auch nachdem sie das Allgemeine losgelöst hat, kann sie nicht thatsächlich erkennen, außer indem sie sich zu den Phantasiebildern wendet, in denen sie die allgemeine Idee liest. So also erkennt die Vernunft für sich als reines Vermögen betrachtet unmittelbar das Allgemeine; kraft ihrer natürlichen Verbindung aber behufs der wirklichen Thätigkeit mit den Phantasiebildern, also mit dem Körper, erkennt sie das Besondere und Einzelne, das die Phantasiegebilde vorstellen. Und so bildet sie den Satz: Sokrates ist Mensch. Damit ist geantwortet auf
c) I. II. Die Wahl, welche auf einen besonderen zu wirkenden Gegenstand geht, ist gleichsam der Schlußsatz eines praktischen Syllogismus. Aus einem allgemeinen Princip nämlich, dem Obersatze, kann man nicht auf etwas Besonderes und Einzelnes schließen außer vermittelst eines Satzes, der die Auffassung von etwas Einzelnem und Besonderem wiedergiebt. Also der allgemeine Satz, welcher das maßgebende Princip enthält, bewegt zum Einzelnen, Besonderen hin nur vermittelst der Auffassung, welche dem sinnlichen Teile zueignet. III. Das Einzelne widerstrebt nicht an und für sich der Vernunft, sondern das Einzelne im Stoffe. Die Vernunft ist ein unstoffliches Einzelne. IV. Die höhere Kraft kann, was die niedrige vermag, aber in hervorragenderer Weise. Was also der Sinn Einzelnes unmittelbar und stofflicherweise erkennt, das erkennt die Vernunft mittelbar und in einer vom Stoffe losgelösten Weise.
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