Achter Artikel. Die Vernunft und das Verständnis des Unteilbaren.
a) Die Vernunft muß zuerst das Unteilbare und kann nur auf Grund dessen das Teilbare verstehen. Denn: I. Aristoteles sagt (1 Physic.): „Wir erkennen und wissen infolge der Kenntnis der Principien und Elemente.“ Die Principien und Elemente des Teilbaren bilden aber das Unteilbare. Also wird zuerst das Unteilbare verstanden. II. „Die Begriffsbestimmung besteht aus dem, was früher und bekannter ist;“ sagt Aristoteles. (6 Topic. c. 1.) Das Unteilbare aber dient dazu, in die Begriffsbestimmung des Teilbaren zu treten. „Die Linie nämlich,“ sagt Euklid (lib. 1. Element. in princ.), „ist eine Länge, deren Endpunkte zwei (unteilbare) Punkte sind;“ und: „Die Zahl,“ sagt Aristoteles (10 Metaphys.), „ist eine Menge, welche durch die (unteilbare) Einheit gemessen wird.“ Also ist das Unteilbare für die Vernunft früher und bekannter. III. Das Unteilbare ist ähnlicher der Vernunft, welche durchaus einfach ist. Also wird es auch eher erkannt. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Das Unteilbare wird offenbar wie der Mangel.“ Der Mangel wird aber erst in zweiter Linie erkannt; also ist auch das Unteilbare erst später erkannt wie das Teilbare.
b) Ich antworte, daß der unserer Vernunft während dieses Lebens eigenste Erkenntnisgegenstand das Wesen des stofflichen Dinges ist, welches sie von den Phantasiebildern loslöst. Und weil der eigenste Gegenstand der Vernunft an erster Stelle und nicht auf Grund von etwas Anderem erkannt ist, so ergiebt sich die Stelle des Unteilbaren unter den Erkenntnisgegenständen aus der Beziehung, die es zu dem genannten Wesen hat. Nun wird aber das Unteilbare in dreifacher Weise so genannt: 1. wie das Zusammenhängende unteilbar ist. Denn es ist wohl dem Vermögen nach teilbar, es kann also geteilt werden; aber thatsächlich ist es ein einiges ungeteiltes Ganze. Ein solches Unteilbare ist von uns früher verstanden, wie dessen Teilung oder dessen Teile; denn die unbestimmte Kenntnis, die den Unterschied der Teile nicht berücksichtigt, ist früher (Art. 3.) wie die bestimmte eingehende. Es wird 2. etwas als unteilbar bezeichnet, wie das Wesen oder die Gattungsnatur des Menschen. Und auch dieses Unteilbare ist früher in der Vernunft wie seine Teilung in die Elemente des Begriffs und ebenso früher wie die Vernunft verbindet und trennt, bejaht und verneint. Solch doppeltes Unteilbare nämlich ist von der Vernunft an und für sich erkannt als ihr eigenster Gegenstand. Endlich wird 3. unteilbar genannt, was nach jeder Seite hin unteilbar ist, wie der Punkt und die Einheit, wo weder thatsächlich noch dem Vermögen nach etwas Teilbares besteht, was weder Teile wirklich hat noch haben kann. Und dieses Unteilbare wird erst später erkannt; nämlich auf Grund und unter Voraussetzung der Erkenntnis des Teilbaren als Mangel der Teilbarkeit. So wird der Punkt definiert als etwas, was keine Teile hat; und ebenso die Einheit. Dieses Unteilbare nämlich steht gewissermaßen im Gegensatze zum körperlichen Dinge, dessen Wesen zuerst und vor allem die Vernunft in sich aufnimmt. Die Platoniker jedoch müssen annehmen, daß in jedem Sinne das Verständnis des Unteilbaren und zwar gerade eines so gearteten wie das letztgenannte an erster Stelle erkannt werde; denn unsere Vernunft versteht nach ihnen nur gemäß Teilnahme an den unteilbaren stofflosen Größen; und auch die Dinge haben nur Sein im Maße ihrer Teilnahme an diesen.
c) I. Oft kommen wir durch die Wirkungen zur Kenntnis der unteilbaren Principien und Elemente; also in der Wissenschaft bilden die Principien und Elemente nicht immer das Ersterkannte. Nur in der Vollendung der Wissenschaft hängt die Kenntnis von den Wirkungen immer ab von der Kenntnis der ausreichenden Ursachen: „Dann wissen wir wirklich,“ sagt Aristoteles (I. c.), „wenn wir das Verursachte auf die Principien zurückführen.“ II. Der Punkt tritt nicht ein in die Begriffsbestimmung der Linie, wenn letztere in dem, was allen Linien gemeinsam ist, genommen wird. Denn in der Linie ohne Ende und in der Kreislinie ist kein begrenzender Punkt, außer etwa dem Vermögen nach. Euklid definiert die gerade, allseitig begrenzte Linie und deshalb setzt er in die Begriffsbestimmung den Punkt wie den Abschluß in der Begriffsbestimmung von etwas Begrenztem. Die Einheit aber ist der Maßstab für die Zahl. Und deshalb wird sie in die Begriffsbestimmung der begrenzten und gemessenen Zahl hineingebracht; nicht aber wird durch sie das Teilbare definiert, sondern umgekehrt vielmehr sie, die Einheit, durch das Teilbare. III. Die Ähnlichkeit, vermittelst deren wir verstehen, ist nicht die Ähnlichkeit, welche etwas gemäß seiner Natur mit unserer Vernunft hat; sondern die Ähnlichkeit mit dem Erkannten, soweit sie im Erkennenden ist. Nicht also weil die Natur eines Dinges näher steht der Natur der Erkenntniskraft, wird dieses Ding früher wahrgenommen; sondern hier ist allein der Gegenstand entscheidend, ob er dem Vermögen entspricht oder nicht. Sonst würde ja das Gesicht eher das Gehör erkennen wie die Farbe; denn die Natur des Gehörs steht der Natur des Gesichts näher wie die Natur der Farbe.
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