Fünfter Artikel. Die Wissenschaften, welche die Seele hier erworben, bleiben ihr nach der Trennung.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Paulus (1. Kor. 13.) sagt: „Die Wissenschaft wird zerstört werden.“ II. Manche tugendhafte Seelen haben hier auf Erden nicht so großes Wissen sich erworben wie manche lasterhafte. Die ersteren wären also nach dieser Seite hin nach dem Tode schlechter daran. III. Die getrennten Seelen haben Wissen vermittelst der Ideen, welche vom unmittelbaren Einflüsse göttlichen Lichtes kommen. Bleiben also die hier auf Erden erworbenen Wissenschaften, so wären zwei Arten Erkenntnisformen für denselben Gegenstand in derselben Seele. IV. Aristoteles (lib. Praedic. qualit.) sagt: „Die Gewohnheit oder der Zustand ist eine schwer bewegliche Eigentümlichkeit.“ Krankheit jedoch oder Ähnliches nimmt manchmal den Zustand einer Wissenschaft fort. Also thut dies um so mehr der Tod, die schwerste Veränderung im Menschen. Auf der anderen Seite sagt Hieronymus (ad Paulinum): „Lernen wir auf Erden jene Dinge, deren Kenntnis im Himmel fortdauert.“
b) Ich antworte, daß Einzelne meinten, der Zustand des Wissens sei als feststehender Zustand im sinnlichen Teile des Menschen; — und dann würde die Wissenschaft natürlich mit dem Tode verschwinden. Weil jedoch das Wissen in der Vernunft selber ist, so muß der Zustand desselben, die Wissenschaft, zum Teil in den sinnlichen Kräften seinen Sitz haben und zum Teil in der („möglichen“) Vernunft. Das kann erklärt werden aus der Art und Weise der vernünftigen Thätigkeit; denn „die Gewohnheiten oder Zustände sind ähnlich den Thätigkeiten, durch die sie erworben werden.“ Die Thätigkeit der Vernunft aber vollzieht sich hier auf Erden dadurch, daß letztere sich zu den Phantasiebildern wendet. Also durch derartige Thätigkeiten erlangt die „mögliche“ Vernunft die Leichtigkeit, durch die in sich aufgenommenen Ideen Manches zu betrachten; und in den besagten sinnlichen Kräften entsteht eine Leichtigkeit, für die Betrachtung mancher Dinge der Vernunft zu Diensten zu sein. Gleichwie nun die Thätigkeit ihrer bestimmenden Form nach in der Vernunft ist, in den sinnlichen Kräften aber nur inwieweit sie da vorbereitet und der Stoff des Gegenstandes vorgehalten wird; so verhält es sich auch mit der Gewohnheit oder dem Zustande. Soweit es auf die niedrigen Kräfte ankommt, bleibt die Wissenschaft nicht in der getrennten Seele. So weit sie aber in der Vernunft selber ist, muß sie bleiben. Denn eine Form geht entweder an und für sich zu Grunde oder auf Grund von etwas Anderem, nämlich durch das Vergehen des Subjekts, ihres Trägers. So wird z. B. das Warme an und für sich verdorben von seinem Gegenteil dem Kalten; und es wird auf Grund des Subjektes verdorben, wenn das Wasser verdirbt, dem es innewohnte. Nun kann die Wissenschaft nicht vergehen, weil das Subjekt, der Träger derselben, vergeht; denn die Vernunft ist unvergänglich. Auch nicht durch ihr Gegenteil können die Ideen in der „möglichen“ Vernunft verdorben werden, also an und für sich; weil die Ideen, insoweit sie der Erkenntnis dienen, keinen Gegensatz untereinander haben, das Warme steht da neben und mit dem Kalten, das Schwarze neben und mit dem Weißen in der Vernunft. Nur insoweit die Vernunft zusammensetzt und trennt oder vom einen auf das andere schließt, kann sich ein Gegensatz finden, in wieweit das Falsche im Schließen gegenübersteht dem Wahren. Und in dieser Weise wird die Wissenschaft bisweilen durch ihr Gegenteil verdorben, wenn jemand zu einem falschen Schlüsse gelangt und so von der Wissenschaft des Wahren abirrt. Aristoteles also nimmt zwei Arten und Weisen an, wie die Wissenschaft vergeht (l. c.): entweder durch Vergessen auf seiten der sinnlichen Gedächtniskraft oder durch Täuschung von seiten falscher Schlußfolgerungen her. Beides aber hat keine Stelle mehr in der getrennten Seele; in ihr bleibt also die erworbene Wissenschaft.
c) I. Der Apostel spricht hier von der Thätigkeit des Wissens, nicht vom Zustande der Wissenschaft; deshalb heißt es: „Jetzt erkenne ich teilweise.“ II. Nach der Figur des Körpers kann ein minder Tugendhafter größer sein wie ein mehr Tugendhafter; und so kann es auch bei der Wissenschaft zutreffen, daß ein minder Guter mehr weiß. Das aber hat gar keine Bedeutung im Vergleiche zu den anderen hohen Vorzügen der Guten. III. Jede von beiden Arten Wissenschaft ist selbständig in der Seele. Also folgt daraus keine Unzuträglichkeit. So urteilt über die Farbe sowohl der Maler, als auch der Naturforscher; jeder kraft einer besonderen Wissenschaft. IV. Insoweit die sinnlichen Kräfte teilnehmen am Zustande der Wissenschaft, wird letztere vergehen.
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