Sechster Artikel. Die Thätigkeit des Wissens bleibt in der getrennten Seele.
a) Dagegen spricht: I. Aristoteles (1. de anima): „Ist der Körper aufgelöst, so erinnert sich die Seele weder an etwas noch liebt sie.“ Das aber thatsächlich betrachten, was sie früher gelernt hat, heißt Erinnerung. Also. II. Die Ideen haben in der getrennten Seele keine größere Kraft wie jetzt. Jetzt aber können wir durch die Ideen nur erkennen, wenn wir uns zu den Phantasiebildern wenden. Da dies also die Seele nicht kann, so vermag sie durch die Ideen, welche sie in sich behält, thatsächlich nicht zu erkennen. III. Aristoteles sagt (2 Ethic. c. 1.): „Aus den Zuständen gehen Thätigkeiten hervor, welche denen ähnlich sind, durch welche diese selbst, die Zustände oder Gewohnheiten, entstanden sind.“ Die Wissenschaft aber in uns ist entstanden dadurch, daß die Vernunft in ihrem Thätigsein sich zu den Phantasiebildern wendet. Also dasselbe wie II. Auf der anderen Seite heißt es Luk. 16.: „Erinnere dich, daß dir vergolten worden ist in deinem irdischen Leben; da hast du Gutes empfangen.“
b) Ich antworte, daß in einer Thätigkeit zwei Dinge zu unterscheiden sind: die Form der Thätigkeit und die Art und Weise derselben. Die erstere nun wird in der Erkenntnisthätigkeit erschlossen durch den Gegenstand des Erkennens; die Art und Weise hängt ab von der Kraft des Erkennenden. So sieht jemand z. B. einen Stein; das kommt von der Form des Steines im Auge. Er sieht ihn scharf und von weitem; das kommt von der Schärfe und Güte seines Auges. In derselben Weise verhält es sich hier. Die Form der Erkenntnis, die Idee, bleibt die nämliche in der getrennten Seele. Aber die Art und Weise des Erkennens vollzieht sich nicht mehr dadurch, daß sich die Vernunft zu den Phantasiebildern wendet, sondern in einer dem Zustande der Seele angemessenen Weise. Und so bleibt in der Seele wohl das der erworbenen Wissenschaft entsprechende thatsächliche Erkennen; aber es bleibt nicht die Art und Weise desselben.
c) I. Aristoteles spricht von der Erinnerung, soweit diese am sinnlichen Gedächtnisse haftet; nicht soweit sie in der geistigen Vernunft ist. II. Die verschiedene Erkenntnisweise kommt nicht von der Verschiedenheit der Ideen, sondern von dem verschiedenen Zustande der Seele. III. Die Thätigkeit, welche aus den Zuständen hervorgeht, ist ähnlich derjenigen, welche zur Bildung derselben beigetragen, der Gattung nach; nicht aber in der Art und Weise des Thätigseins. Vermöge des Zustandes oder der Gewohnheit nämlich geht die Thätigkeit leicht und gewissermaßen mit Vergnügen von statten.
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