Vierter Artikel. Die getrennte Seele erkennt die Einzeldinge.
a) Dem steht entgegen: I. Nur die Vernunft bleibt von allen Erkenntniskräften in der getrennten Seele. Der Gegenstand der Vernunft aber ist nicht das Einzelne. II. Die Kenntnis, die sich auf etwas Einzelnes, Bestimmtes richtet, ist bestimmt und ins Einzelne gehend. Die Kenntnis der getrennten Seele aber ist eine mehr allgemeine und unbestimmte. (Vgl. oben Art. 3.) III. Kannte die getrennte Seele die Einzeldinge, so würde sie alle Einzeldinge kennen müssen; so wie wer eine Farbe kennt, alle kennt. Die Seele aber erkennt nicht alles Einzelne. Also erkennt sie kein Einzelding. Auf der anderen Seite sagte der Reiche in der Hölle: „Ich habe fünf Brüder.“
b) Ich antworte, die getrennte Seele kenne einige Einzelwesen; aber nicht alle, mögen sie auch gegenwärtig sein. Denn einmal erkennt die Seele das Einzelne gemäß dem, daß sie ihren Gegenstand loslöst von den Phantasiebildern; und so erkennt sie es bloß mittelbar und indirekt; — dann erkennt sie vermittelst des unmittelbar göttlichen Einflusses, wodurch ihr Ideen eingeprägt werden; und auch so erkennt sie Einzelnes. Denn sowie Gott Einzelsein hat kraft seines eigenen Wesens, so erkennt Er auch Alles kraft seines Wesens, inwieweit Er die Ursache der allgemeinen Principien und der Principien des Einzelseins ist; und deshalb können auch die getrennten Seelen durch ihre Ideen, welche eine unmittelbare Wirkung göttlichen Einflusses und somit ähnlich sind dem göttlichen Wesen, Einzeldinge als solche erkennen. Darin aber ist der Unterschied zwischen dem Engel und der menschlichen getrennten Seele, daß der Engel eine vollkommene und dem einzelnen Erkannten eigens entsprechende Kenntnis hat, die getrennte Seele aber eine mehr allgemeine und unbestimmte. Deshalb erkennen die Engel nicht nur die einzelnen Naturen eine jede in ihrem Unterschiede von der anderen, sondern auch die in der jedesmaligen Gattungsnatur enthaltenen Einzeldinge. Die Seele aber erkennt nur jene Einzeldinge, zu deren Kenntnis sie entweder auf Grund der vorgehenden Kenntnis oder auf Grund gewisser Zuneigung oder auf Grund natürlicher Beziehung oder auf Grund göttlicher Anordnung bestimmt wird.
c) I. Die Vernunft erkennt das Einzelne nicht, insoweit sie dadurch allein erkennt, daß sie ihren Gegenstand vom Stoffe loslöst. So aber erkennt die Seele, welche vom Leibe getrennt ist, nicht. II. Zur Kenntnis jener Einzeldinge wird die Seele bestimmt, zu denen sie eine irgend welche Beziehung hat. (Vgl. oben.) III. Die getrennte Seele steht nicht im gleichen Verhältnisse zu allen Einzeldingen, sondern nur zu etwelchen besonderen.
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