Dritter Artikel. Adam hatte alle Tugenden.
a) Dem steht gegenüber: I. Manche Tugenden bestehen darin, daß sie die ungeregelten Leidenschaften zügeln. Letztere waren nicht in Adam; also auch nicht die entsprechenden Tugenden. II. Manche Tugenden berücksichtigen jene Leidenschaften, die auf das Übel gerichtet sind; wie die Milde z. B. den Zornesausbrüchen entgegentritt. Solche Leidenschaften gab es aber da nicht. III. Die Reue erstreckt sich auf die begangenen Sünden; die Barmherzigkeit auf das Elend. Elend und Sünde waren aber nicht im Stande der Unschuld. IV. Die Beharrlichkeit ist desgleichen eine Tugend, die Adam nicht hatte. V. Der Glaube ist eine Tugend. Er war aber nicht in Adam; weil er seinem Wesen Dunkel und Rätselhaftes einschließt, was mit dem Erkennen Adams nicht verbunden erschien. Auf der anderen Seite schreibt Augustin (contra Judaeos c. 2.): „Der Fürst aller Laster sah Adam vom Staube der Erde emporsteigen nach dem Bilde Gottes gemacht, mit heiliger Scham geziert, mit Mäßigkeit geschmückt, mit hellem Lichte umgeben.“
b) Ich antworte, daß Adam in gewisser Weise alle Tugenden besaß. Denn in ihm gehorchte die Vernunft Gott und die niedrigeren Kräfte folgten der Vernunft. Dazu sind aber gerade alle Tugenden da, daß sie die Vernunft Gott unterwerfen und die Sinneskräfte der Vernunft. Die Geradheit und Urgerechtigkeit des ersten Zustandes also erforderte die Gegenwart aller Tugenden. Jedoch giebt es Tugenden, welche in ihrer Natur nichts Unvollkommenes einschließen, wie die Liebe und Gerechtigkeit; und alle diese Tugenden waren ohne weiteres in Adam. Andere enthalten in ihrer Natur etwas Unvollkommenes, sei es von seiten des Tugendaktes sei es von seiten des Gegenstandes. Und wenn nun dieses Unvollkommene der Vollkommenheit des Standes der Unschuld nicht widerspricht, so waren auch diese Tugenden in Adam; wie der Glaube, der sich darauf richtet, was nicht geschaut wird, und die Hoffnung, deren Gegenstand das ist, was nicht besessen wird. Adam nämlich war nicht in der Weise vollkommen, daß er das göttliche Wesen geschaut oder die ewige Seligkeit genossen hätte. Hoffnung und Glaube also waren in Adam sowohl dem Zustande nach, dem gemäß er sie üben konnte, als auch der Thätigkeit nach. Steht aber das Unvollkommene in der Tugend der Vollendung im Stande der Unschuld entgegen, so konnte eine derartige Tugend wohl dem Zustande nach in Adam sein, nicht aber der thatsächlichen Übung nach. Denn die Reue z. B. ist ein Schmerz über die begangene Sünde und die Barmherzigkeit erstreckt sich auf fremdes Elend. Dergleichen Tugenden also konnte der Mensch üben; er war geeignet dazu, Reue zu haben, vorausgesetzt daß er gesündigt hätte, oder Mitleid zu haben, wenn fremdes Elend sich ihm vorgestellt. Thatsächlich ausüben aber konnte er sie nicht, weil eben keine Sünde und kein Elend thatsächlich da war. (Vgl. Aris. 4 Ethic. c. ult.)
c) I. Der Mäßigkeit und der Stärke z. B. kommt es zufälligerweise zu, daß sie das Übermaß der Leidenschaften zurückweisen, insofern sie nämlich dieselben in solcher Beschaffenheit im Subjekte vorfinden. Der Natur dieser Tugenden entspricht es nur, solche Leidenschaften zu lenken. II. Leidenschaften, welche das Übel im anderen, nicht aber in der eigenen Person zum Gegenstände haben, widerstreiten nicht der Vollkommenheit des Standes der Unschuld. Adam konnte hassen die Bosheit der Dämonen, lieben die Güte Gottes. Die entsprechenden Tugenden also konnten sowohl dem Zustande wie der Thätigkeit nach im ersten Menschen sein. Jene Tugenden auch, welche nicht nur das Übel in der eigenen Person,sondern auch das Gute berücksichtigen, fanden sich im Stande der Unschuld, wie z. B. die Mäßigkeit nicht nur die Traurigkeit einschränkt, sondern auch die Freude und das Ergötzen; oder wie die Stärke, welche nicht nur die Befürchtungen zügelt, sondern auch die Hoffnung. Im ersten Naturzustande des Menschen also konnte die Mäßigkeit auch thatsächlich ausgeübt werden, aber nur rücksichtlich der Ergötzlichkeiten; und ebenso die Stärke, aber nur rücksichtlich der Hoffnung. III. Ist bereits beantwortet. IV. Die Beharrlichkeit ist 1. eine Tugend und drückt so einen Zustand aus, kraft dessen jemand sich entscheidet, im Guten zu verharren. Diese Tugend hatte Adam. Sie ist 2. ein Umstand der Tugend und drückt so aus, daß die Tugend ohne Unterbrechen weiter dauere. Diese Beharrlichkeit hatte Adam nicht. V. Ist bereits beantwortet.
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