Dritter Artikel. Die Seligkeit des Schauens und das Begreifen.
a) Zur vollen Seligkeit scheint nicht erfordert zu sein das Begreifen. Denn: I. Augustinus sagt (ad Paulinum de videndo Deum cap. 9.; 38. de verb. Dom.): „Mit der Vernunft Gott erreichen ist große Seligkeit; Ihn begreifen ist unmöglich.“ II. Die Vernunft wird hinreichend beseligt durch das Schauen; der Wille durch die Freude. Also bedarf es keines dritten Elements wie des Begreifens. III. Die Seligkeit besteht im Thätigsein. Thätigkeiten aber bestimmensich nach den Gegenständen der entsprechenden Vermögen. Solcher allgemeiner Gegenstände sind nun zwei: das Wahre und das Gute, von denen das Wahre der Vernunft entspricht, das Gute dem Willen. Also bedarf es keines dritten Gegenstandes, welcher etwa das Begreifen vermittelte. Auf der anderen Seite sagt Paulus (1. Kor. 9.): „So laufet, daß ihr begreifet;“ jedenfalls aber endet der Lauf des Geistes in der Seligkeit. Demgemäß sagt er selber (2. Tim. 7.): „Den guten Kampf habe ich gekämpft; den Lauf habe ich vollendet; im übrigen ist mir aufbehalten die Krone der Gerechtigkeit.“ Also das Begreifen, das comprehendere, wird zur vollen Seligkeit erfordert.
b) Ich antworte, daß, da die Seligkeit in der Erreichung des letzten Endzweckes besteht, die Güter, welche zur selbigen erfordert werden, zu bemessen sind nach der Beziehung, die der Mensch zum letzten Zwecke hat. Zum letzten Endzwecke aber hin hat der Mensch Beziehung teils auf Grund der Vernunft, teils auf Grund des Willens: Auf Grund der Vernunft, insoweit in derselben eine etwelche, wenn auch unvollkommene, Kenntnis des Zweckes vorherbesteht; — auf Grund des Willens aber 1. kraft der Liebe, die nichts Anderes ist als die erste Bewegung des Willens zu etwas hin, und 2. kraft des im wirklichen Sein begründeten Verhältnisses des Liebenden zum geliebten Gute. Denn bisweilen ist das geliebte Gut dem Liebenden gegenwärtig, in welchem Falle es nicht mehr gesucht wird; bisweilen ist es nicht gegenwärtig, zugleich aber erscheint die Unmöglichkeit, es zu erlangen, in welchem Falle es ebenfalls nicht erstrebt wird; bisweilen endlich ist es wohl möglich, daß es erlangt werde, es ist jedoch erhaben über die Kraft dessen, der es haben will, so daß es nicht allsogleich erlangt werden kann. Im letzteren Falle entsteht das Verhältnis des Hoffenden zum Gehofften; und dieses Verhältnis allein treibt an, nach dem Zwecke zu streben. Und diesen drei Beziehungen entspricht je etwas in der Seligkeit selber. Denn die vollendete Kenntnis des letzten Endzweckes entspricht der unvollendeten; die Gegenwart des letzten Endgutes der Beziehung der Hoffnung; die Freude an dem gegenwärtigen Gute folgt der Liebe. Diese drei Dinge müssen also bei der vollendeten Seligkeit zusammentreten: nämlich das Schauen als die vollendete Kenntnis des Zweckes; das Begreifen oder Ergreifen als die Gegenwart des Zweckes; die Freude oder der Genuß als die Ruhe des Liebenden im geliebten Gegenstande.
c) I. „Begreifen“ sagt man in doppeltem Sinne aus: einmal in der Weise, daß das Begriffene im Begreifenden vollständig eingeschlossen ist; und so ist Alles begriffen, was vom Begrenzten eingeschlossen wird, wie etwa der Stein von der Hand gleichermaßen begrenzt und einbegriffen erscheint. Insofern also kann Gott von keiner geschaffenen Vernunft begriffen werden. Ferner heißt „Begreifen“ oder „Ergreifen“ das Festhalten eines Gegenstandes, welcher bereits besessen wird; wie z. B. jener, der da einem anderen nachläuft, ihn begreift oder ergreift, wenn er ihn festhält. Und insoweit gehört das Begreifen zur Seligkeit. II. Wie zum Willen gehört die Hoffnung und die Liebe, denn ein und demselben Vermögen gehört es zu, etwas zu lieben und nach demselben zu streben, wenn es noch nicht besessen wird; — so gehört zum Willen auch das Begreifen und das Ergötzen; denn ein und demselben Vermögen gehört Es zu, etwas zu besitzen und in demselben auszuruhen.III. Dieses „Begreifen“ ist keine Thätigkeit, welche zum Schauen selber noch eigens hinzuträte, sondern sie steht nur da als die Beziehung zum Zwecke als einem bereits besessenen und festgehaltenen.
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