Vierter Artikel. Die Aufrichtigkeit oder Geradheit des Willens gehört zur Seligkeit.
a) Dem steht entgegen: I. Die Seligkeit besteht in der Thätigkeit der Vernunft. Zur vollendeten Thätigkeit der Vernunft aber gehört nicht die Aufrichtigkeit des Willens, auf Grund deren die Menschen als „rein“ bezeichnet werden. Denn Augustin sagt (1. Retr. 4.): „Ich billige das nicht, was ich im Gebete gesagt habe: Gott, der Du gewollt hast, daß nur die Reinen Wahrheit wissen; — denn es kann geantwortet werden, daß viele, die nicht rein sind, ebenfalls manche Wahrheiten wissen.“ Also die Aufrichtigkeit oder Geradheit des Willens ist nicht erfordert zur Seligkeit. II. Das, was früher ist, hängt nicht ab vom Nachfolgenden. Die Wirksamkeit der Vernunft aber ist früher als die des Willens. Also die Seligkeit, welche die vollendete Thätigkeit der Vernunft ist, hängt nicht ab von der Geradheit des Willens. III. Was als zweckdienlich zu etwas Beziehung hat, ist nicht mehr notwendig nach Erreichung des Zweckes; wie das Schiff nicht mehr notwendig ist, nachdem der Hafen erreicht ist. Die Geradheit des Willens aber, sowie sie durch die Tugend geformt wird, hat Beziehung zur Seligkeit, wie das Mittel Beziehung hat zum Zwecke. Also ist sie nach erlangter Seligkeit nicht mehr notwendig. Auf der anderen Seite heißt es bei Matth. 5, 8.: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott anschauen;“ und Hebr. 12.: „Frieden sollt ihr haben mit allen und Heiligmäßigkeit, ohne welche niemand Gott sehen wird.“
b) Ich antworte, die Aufrichtigkeit und Geradheit des Willens wird zur Seligkeit erfordert als Vorbereitung sowohl wie ebenso als begleitende Folge: Als Vorbereitung; — denn die Aufrichtigkeit des Willens wird hergestellt durch die gebührende Beziehung zum letzten Endzwecke hin; der Zweck steht aber im selben Verhältnisse zum Zweckdienlichen, was nämlich zum Zwecke Beziehung hat, wie eine Form zu ihrem entsprechenden Stoffe. Wie also der Stoff zu seiner Form nicht kommen kann, wenn er nicht gebührendermaßen für dieselbe vorbereitet ist, so erreicht nichts seinen Zweck, wenn es nicht gebührenderweise dazu vorbereitet ist. Letzteres nun geschieht eben durch die Geradheit des Willens. Als begleitende Folge wird die Geradheit des Willens erfordert, weil das göttliche Wesen, der Gegenstand der Anschauung, das Wesen der Güte selber ist und somit der Wille dessen, der Gottes Wesen schaut, mit Notwendigkeit das liebt, was er mit Beziehung auf Gott liebt. Es tritt hier ganz derselbe Fall ein wie im gegenwärtigen Leben bei dem Verlangen nach dem Guten im allgemeinen: Der Mensch liebt das mit Notwendigkeit, was auch immer und soweit er es als den Charakter des Guten tragend erkennt; und dieses selbst ist es, was den Willen zu einem geraden aufrichtigen macht. Also kann die Seligkeit gar nicht bestehen ohne die Aufrichtigkeit und Geradheit des Willens
c) I. Augustinus spricht vom Wahren, insofern es nicht das Wesen der Güte ist. II. Jeder Akt des Willens geht hervor von einem Akte der Vernunft. Ein gewisser bestimmter Willensakt aber im einzelnen ist früher wie ein gewisser bestimmter Akt der Vernunft. Denn der Wille strebt nach dem letzten Endzwecke der Vernunft, nämlich nach der Seligkeit. Und deshalb ist die Geradheit und Aufrichtigkeit des Willens in dem Sinne ein Vorerfordernis für die Seligkeit, wie die gerade Bewegung des Pfeiles ein Vorerfordernis ist für das Treffen des Zeichens. III. Nicht Alles, was zweckdienlich ist, hört auf mit dem Eintreten des letzten Endzweckes; sondern nur was den Charakter des Unvollkommenen hat, wie die Bewegung. Also das, was der Bewegung dient, wird durch das Erreichen des Zweckes überflüssig; die gebührende Beziehung zum Endzwecke aber ist notwendig.
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