Neunter Artikel. Die Seligen schauen, was sie in Gott schauen, nur kraft seines Wesens und nicht kraft anderer Ähnlichkeiten.
a) Was in Gott geschaut wird, das muß vermittelst der den geschauten Gegenstanden entsprechenden Ähnlichkeiten geschaut werden. Denn: I. Jegliche Kenntnis geschieht dadurch, daß der Erkennende denr Erkannten ähnlich wird. Nur nämlich wenn die Erkenntniskraft, insoweit sie erkennt, das thatsächlich Erkannte ist, wird die thatsächliche Erkenntnis erzielt; sowie auch das Auge nur sieht, insofern die Pupille durch die Ähnlichkeit der Farbe geformt wird. Wenn also die Gott schauende Vernunft einzelne Kreaturen sieht, so kann dies nur vermittelst solcher Ähnlichkeiten geschehen; wie sie z.B. den einzelnen Menschen erkennt vermittelst der Ähnlichkeit, welche der einzelne Mensch hat mit der allgemeinen Gattung „Mensch“. II. Das, was wir früher gesehen haben, behalten wir im Gedächtnisse. Paulus aber, welcher das göttliche Wesen geschaut (Augustinus 125. ep. Gen. ad litt. cap. 3.) erinnerte sich vieler Dinge, welche er darin geschaut, nachdem die Verzückung bereits vorüber war; denn er sagt: „Ich habe geheimnisvolle Worte gehört, welche der Mensch nicht aussprechen darf.“ Also mußten einige Ähnlichkeiten, vermittelst deren er geheimnisvolle Dinge in Gott geschaut, in ihm eingeprägt zurückgeblieben sein. Und aus eben dem Grunde mußte er, da er das Wesen Gottes schaute, diese selben Dinge vermittelst dieser Ähnlichkeiten geschaut haben. Auf der anderen Seite wird auf einmal gesehen der Spiegel und was im Spiegel erscheint. Alles aber wird in Gott so gesehen wie in einem Spiegel, der alles Andere wiederstrahlt. Wenn also Gott vermittelst keiner Ähnlichkeit gesehen wird, sondern kraft seines Wesens allein, so kann auch das, was in Gott erscheint, nicht vermittelst einzelner besonderer Ähnlichkeiten oder Formen gesehen werden.
b) Ich antworte: Die da Gott in seinem Wesen schauen, sehen, was auch immer in Gott erscheint, nicht durch besondere Ähnlichkeiten und Formen, sondern durch die göttliche Natur selber, die mit der Vernunft vereint ist. Denn es wird Jegliches in der Weise erkannt, in welcher eine Ähnlichkeit von ihm innerhalb des Erkennenden sich findet. Das aber ist in doppelter Weise der Fall. Da nämlich, wenn verschiedene Dinge insgesamt ein und demselben ähneln, sie auch untereinander wechselseitig ähnlich sind, so kann die erkennende Kraft in zweifacher Weise dem Erkennbaren ähnlich werden: Einmal dadurch daß sie unmittelbar und direkt durch die Ähnlichkeit des einzelnen Dinges für das Erkennen geformt wird; und dann wird dieses Ding an und für sich gekannt. Dann dadurch daß die Erkenntniskraft durch die Form jenes Dinges bestimmt wird, welchem das andere ähnlich ist; und in diesem Falle wird das einzelne Ding durch die Form dessen, was ihm ähnlich ist, erkannt. Denn eine andere Kenntnis ist die, durch welche der Mensch an sich erkannt wird, und eine andere, durch welche dieser selbe Mensch vermittelst seines Bildes erkannt wird. So also die Dinge erkennen, daß deren Ähnlichkeiten selber im Erkennenden sind, das will sagen, sie erkennen in ihnen selbst oder in ihren eigenen Naturen. Sie aber erkennen, insofern Ähnlichkeiten derselben in Gott vor aller Zeit existieren, das heißt sie in Gott sehen. Und diese beiden Arten Ecknntnis sind verschieden. Also gemäß jener Kenntnis, durch welche die Dinge von den das göttliche Wesen Schauenden erkannt werden, sind diese Dinge nicht durch Formen und Ähnlichkeiten gekannt; sondern einzig und allein durch diese selbe Wesenheit Gottes, die mit der Vernunft geeinigt ist, durch welche Gott selber geschaut wird. Deshalb wird auf den ersten Einwurf erwidert:
a) I. Die Ähnlichkeit zwischen den Erkennenden und den in Gott erkannten Dingen ist begründet in jener Ähnlichkeit, welche die erkannten Dinge mit Gott haben; insofern sie in seiner ursächlichen Kraft vor aller Zeit und in mehr hervorragender Weise wie in sich selbr existieren. II. Es giebt erkennende Kräfte in uns, welche aus vorher erfaßte Formen andere Formen bilden können; wie die Phantasie aus der zuerst erfaßten Form „Berg“ und aus der Form „Gold“ die Form „goldener Berg“ bildet oderr wie die Vernunft aus den vorhererfaßten Formen der „Art“ und des „Gatttungsunterschiedes“ die ganze Gattung sich bildet; und ebenso können wir uns aus der Ähnlichkeit eines Bildes die Züge jenes Menschen vorstellen, dem das Bild gilt. So konnte Paulus aus der Anschauung der göttlichen Natur selber sich Ähnlichkeiten von solchen Dingen bilden, die Er in Gott geschaut hatte, und die dann in Paulus zurückblieben, nachdem die Anschauung vorüber war. Ein solches Schauen oder mit Hilfe derartiger Ähnlichkeiten ist nicht mehr dasselbe wie jenes, durch das die Dinge in Gott gesehen werden, sondern wesentlich davon verschieden.
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