Achter Artikel. Es giebt Handlungen, die ihrem Wesen nach indifferent sind für das Gute und das Böse.
a) Dem scheint entgegenzustehen: I. „Das Übel ist ein Mangel an Gutem,“ schreibt Augustin (Enchir. 11.). Der Mangel aber und der entgegenstehende positive Zustand sind rücksichtlich des einen selben Vermögens sich einander ausschließende Gegensätze, wie Blindheit und Sehen im Auge, sagt Aristoteles (Praedicam. de Oppositis). Also kann es für das Willensvermögen keinen Akt geben, der seinem Wesen nach gleichgültig wäre und sonach in der Mitte stände zwischen Gutem und Bösem. II. Die menschlichen Handlungen haben ihre Wesensstufe vom Gegenstande oder dem Zwecke her. Aller Zweck aber und jeder Gegenstand trägt den Charakter des Guten oder des Bösen. Also ist jede menschliche Handlung ihrem Wesen nach gut oder böse; und keine ist gleichgültig. III. Eine Handlung ist gut, wenn sie die gebührende Vollendung der Güte besitzt; sie ist schlecht, wenn daran ihr etwas fehlt. Notwendig aber ist eine Handlung vollendet oder es fehlt ihr etwas. Also ist sie notwendigerweise gut oder schlecht. Auf der anderen Seite sagt Augustin (2. de serm. Dom. in monte 18.): „Manche Thaten stehen in der Mitte; sie können in guter oder schlechter Absicht geschehen; — und darüber zu urteilen, wäre verwegen.“
b) Ich antworte, daß, wie bereits gesagt worden, jede Handlung ihre Wesensstufe im Sein dem Gegenstande entnehme; und die menschlicheHandlung, insoweit sie als moralische betrachtet wird, entnimmt die Wesensstufe ihrem Gegenstande, insoweit dieser bezogen wird auf das Princip der menschlichen Handlungen, nämlich auf die Vernunft. Wenn also der Gegenstand einer solchen Handlung etwas einschließt, was der Ordnung der Vernunft zukömmlich ist, so wird gemäß seiner Wesensstufe diese Handlung gut sein, wie z. B. dem Bedürftigen ein Almosen geben. Wenn aber etwas der Vernunft Zuwiderlaufendes darin eingeschlossen ist, so ist die betreffende Handlung gemäß ihrer Wesensstufe schlecht; wie z. B. Stehlen, was da ist: an fremdem Eigentume sich vergreifen. Nun trifft es sich jedoch manchmal, daß der Gegenstand der betreffenden Handlung nichts einschließt, was die vernünftige Ordnung angeht; wie z. B. aufs Feld gehen, einen Strohhalm aufheben etc. Und das sind Handlungen, welche gemäß ihrer Seinsstufe indifferent, vom inneren Wesen nämlich aus weder gut noch böse sind.
c) I. Es giebt einen doppelten Mangel: Der eine besteht darin, daß etwas vollständig mangelt; wie die Blindheit vollständig das Sehen fortnimmt, die Finsternis das Licht, der Tod das Leben. Zwischen einem solchen Mangel also und dem entgegengesetzten Zustande giebt es kein Mittelding. In anderer Weise wird als Mangel bezeichnet, wenn etwas zu mangeln beginnt, also der Weg zum vollständigen Mangel; wie die Krankheit ein Mangel an Gesundheit ist, nicht als ob die ganze Gesundheit entfernt sei, sondern weil sie der Weg ist zum gänzlichen Fernbleiben der Gesundheit. Da somit ein solcher Mangel etwas zurückläßt, so ist er nicht in vollständigem, unmittelbarem, ausschließendem Gegensatze mit dem entgegenstehenden Zustande. Und in dieser Weise ist das Übel ein Mangel am Guten; denn es nimmt nicht das Gute vollständig hinweg, sondern läßt etwas zurück. Danach kann also ein Mittelsein bestehen zwischen „Gut“ und „Böse“. II. Auf Grund seiner Natur hat wohl jeder Gegenstand und jeder Zweck etwas Gutes an sich. Aber das ist nicht die moralische Güte, die kraft der Beziehung zur Vernunft besteht. III. Nicht Alles, was der Akt in sich besitzt, gehört seinem Wesen an. Also ist auch nicht in seinem Wesen Alles enthalten, was zur Vollendung seiner Güte gehört; und ist er deshalb seinem Wesen nach weder gut noch böse; wie ja auch der Mensch seinem inneren Wesen nach weder gut noch böse ist.
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