3.
Aber vielleicht widerspricht jemand unseren Erörterungen im Hinblick auf die Gegenwart und vermeint, unsere Anschauung deshalb als unrichtig darstellen zu können, weil die Menschheit jetzt nicht mehr im Besitze jener Güter ist, sondern von den entgegengesetzten Übeln heimgesucht wird. Denn wo ist jetzt die Gottähnlichkeit der Seele? wo die Schmerzlosigkeit des Leibes? wo die S. 14 Ewigkeit des Lebens? Die kurze Dauer unseres Daseins, Krankheiten, Mühseligkeiten, Gebundenheit an jede Art von Leiden an Leib und Seele ― dies und dergleichen anführend ― kann man unter schweren Anklagen unserer Natur die Ansichten, welche wir über den Menschen vorgetragen haben, auf den Kopf zu stellen suchen. Allein wir wollen auch hierüber, damit unsere Rede an keinem Punkte die folgerichtige Beweisführung vermissen lasse, in eine kurze Besprechung eintreten. Die Mißstände, welche jetzt das Menschenleben drücken, beweisen noch lange nicht, daß der Mensch sich niemals in durchaus glücklicher Lage befand. Denn da der Mensch ein Werk Gottes ist, der aus Güte dieses Lebewesen ins Dasein rief, so kann niemand den Verdacht hegen, Gott selbst habe uns, nachdem ihn lautere Liebe zu unserer Erschaffung bestimmte, in eine Welt des Bösen und der Übel gesetzt; vielmehr müssen wir anderswo die Ursache dafür suchen, daß wir das frühere Glück verloren haben und uns jetzt in dem gegenwärtigen Zustand befinden.
Der Grund hiefür liegt wiederum innerhalb der Zugeständnisse, welche unsere Gegner machen müssen. Derjenige nämlich, welcher den Menschen zum Zwecke der Teilnahme an seinen eigenen Gütern schuf und ihm die Keime zu allen Vorzügen in die Natur einpflanzte, damit durch jeden derselben unser Verlangen nach der entsprechenden verwandten Vollkommenheit in Gott entzündet werde, wollte uns gewiß nicht das edelste und wertvollste Gut vorenthalten, ― ich meine die Gnadengabe der Selbstbestimmung und der Freiheit unseres Willens. Würde nämlich der Zwang der Notwendigkeit über dem menschlichen Leben walten, so wäre das Abbild nach dieser Seite hin mißraten, insofern es durch diese Unähnlichkeit zu sehr vom Urbild abstechen würde. Denn wie könnte eine gewissen Notwendigkeiten unterworfene und von ihnen geknechtete Natur ein getreues Abbild von jener sein, die da königlich herrscht und regiert? Daher mußte der Mensch, weil in allen Stücken zur Ähnlichkeit mit Gott berufen, des Selbstbestimmungsrechtes und der Freiheit teilhaftig werden; infolgedessen ist allerdings auch die Erlangung aller Güter als Kampfpreis an die Tugend geknüpft.