1.
S. 235 V. 1: „Paulus, Apostel Jesu Christi durch den Willen Gottes, und Timotheus, der Bruder,“
V. 2: „an die Heiligen in Kolossä und an die gläubigen Brüder in Christus.1: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater2.“
Heilig sind alle paulinischen Briefe; aber diejenigen, welche der Apostel aus Kerker und Banden sendet, haben etwas vor den anderen voraus, wie der an die Ephesier, der an Philemon, der an Timotheus, der an die Philipper und der vorliegende hier. Denn auch dieser wurde von ihm abgesendet, während er in Fesseln lag, wie sich aus folgender Stelle des Schreibens ergibt: „Um dessentwillen ich auch in Banden bin, damit ich es offenbare, sowie ich es verkünden soll3.“ Doch scheint unser Brief später verfaßt zu sein als der an die Römer. Denn diesen schrieb er, als er die Römer noch nicht gesehen hatte, jenen dagegen, als er bereits mit ihnen zusammengekommen war und am Ende seiner apostolischen Laufbahn stand. Das geht deutlich aus folgendem hervor. Im Briefe an Philemon sagt er: „Da du ebenso wie Paulus ein alter Mann bist4“, und bittet für Onesimus; in dem vorliegenden aber schickt er den Onesimus selbst, wie es denn heißt: „Mit Onesimus, dem treuen und vielgeliebten Bruder5“, indem S. 236 er ihn treu und vielgeliebt und Bruder nennt6. Darum spricht Paulus in unserem Briefe auch mit Zuversicht: „Von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt, das gepredigt wurde in der ganzen Schöpfung, die unter dem Himmel ist7.“ Denn die Predigt des Evangeliums hatte bereits geraume Zeit gedauert. Meines Erachtens nun ist der Brief an Timotheus später als dieser und erst gegen sein Lebensende verfaßt; es heißt nämlich dort: „denn ich werde schon hingeopfert8.“ — Unser Brief nun ist älter9 als der an die Philipper; denn da stand Paulus damals am Anfange seiner römischen Haft. — Weshalb aber sage ich, diese Briefe hatten etwas voraus insofern, als er sie vom Gefängnisse aus schreibt? Wie wenn ein siegreicher Held mitten unter Leichnamen und Trophäen stehend schriftlichen Bericht erstattete, so tat auch er. Weiß er doch selber recht gut, daß dies etwas Großes ist; denn im Briefe an Philemon spricht er: „Den ich in meinen Banden gezeugt habe10.“ Dieses aber sagt er, damit wir in Widerwärtigkeiten nicht ungeduldig werden, sondern uns vielmehr freuen. — Hier war Philemon bei ihnen. Denn in jenem Briefe heißt es: „Und an Archippus, unsern Mitstreiter11“; und hier: „Sagt dem Archippus12!“ Derselbe muß mit irgendeinem kirchlichen Amte betraut gewesen sein. Paulus aber hatte weder die Kolosser noch die Römer noch die Hebräer gesehen zur Zeit, da er an sie schrieb. Was die letzteren anbelangt, ergibt sich das aus vielen Stellen; was aber die Kolosser be- S. 237 trifft, so höre seine eigenen Aussprüche: „Und alle, die mein Angesicht im Fleische nicht gesehen haben13“; und ferner: „Wenn ich auch dem Leibe nach abwesend bin, so bin ich doch im Geiste bei euch14“. So sehr war er sich bewußt, von welcher Bedeutung seine Anwesenheit überall war; und immer versetzt er sich, auch wenn er abwesend ist, in ihre Gegenwart. Beachte, wie er über den Unzüchtigen zu Gericht sitzt, als wäre er persönlich anwesend. „Ich habe nämlich,“ sagt er, „zwar abwesend dem Leibe nach, aber gegenwärtig dem Geiste nach, bereits entschieden, als wäre ich gegenwärtig15.“ Und wiederum: „Ich werde zu euch kommen, und dann will ich nicht das Gerede der Aufgeblasenen kennen lernen, sondern ihre Kraft16.“ Und abermals: „Nicht nur wenn ich bei euch gegenwärtig bin, sondern weit mehr noch bei meiner Abwesenheit17.“ — „Paulus, Apostel Jesu Christi durch den Willen Gottes.“ Es dürfte aber auch angezeigt sein, den Inhalt des Briefes, wie er sich aus demselben entnehmen läßt, in Kürze anzugeben. Welches ist nun dieser? Die Kolosser suchten durch Vermittlung der Engel zu Gott zu gelangen, beobachteten viele jüdische und heidnische Gebräuche. Darüber nun weist er sie zurecht. Deswegen sagt er gleich eingangs: „durch den Willen Gottes“. Beachte: er setzt hier wieder die Präposition „durch“. — „Und Timotheus, der Bruder“, heißt es weiter. Demnach war auch dieser ein Apostel. Es lag nahe, sie auch mit ihm bekannt zu machen. — „An die Heiligen in Kolossä.“ Diese Stadt war in Phrygien; das ergibt sich daraus, daß sie in der Nähe von Laodicea lag. — „Und an die Gläubigen in Christus.“ Sage mir doch, will er fragen, wieso bist du denn ein Heiliger geworden? Wieso wirst du denn ein Gläubiger genannt? Nicht deshalb, weil du durch den Tod Christi geheiligt wurdest? Nicht deshalb, weil du an Christus glaubst? Wieso bist du ein Bruder geworden? Du S. 238 hattest dich ja weder in Worten noch in Werken noch durch vollkommenen Lebenswandel als einen Gläubigen gezeigt. Sage mir, wieso wurden dir denn so große Geheimnisse anvertraut? Geschah es nicht durch Christus? — „Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater.“ Woher kommt euch die Gnade? woher der Friede? „Von Gott, unserm Vater“, lautet die Antwort. Es ist bemerkenswert, daß er an dieser Stelle nicht den Namen Christi setzt. Denen gegenüber, welche den Geist lästern, will ich fragen: Woher ist Gott Vater der Diener? Wer hat diese großen Dinge zustande gebracht? Wer hat dich heilig gemacht? wer gläubig? wer zu einem Kinde Gottes? Der dich des Glaubens würdig gemacht hat, derselbe ist auch die Ursache, daß dir alles zum Glauben anvertraut worden ist.
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Die Vulgata liest: „in Christus Jesus“ und zieht die folgenden Worte schon zum nächsten Verse. ↩
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Die Worte καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ hat Chrysostomus, wie er selbst betont, in dem von ihm benützten Exemplare nicht gelesen. ↩
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Kol. 4, 3. 4. ↩
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Philem. 9. ↩
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Kol. 4, 9. ↩
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Um den Nachweis zu erbringen, daß unser Brief von Paulus in Rom abgefaßt sei, und zwar gegen Ende seiner apostolischen Laufbahn, zeigt Chrysostomus, daß derselbe jünger sei als der Brief an Philemon, welchen der Weltapostel bekanntlich zu Rom in fortgeschrittenem Alter geschrieben hat. ↩
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Kol. 1, 23 ↩
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2 Tim. 4, 6. ↩
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Wir behalten die Lesart πρεσβυτέρα bei; das nachfolgende ἐκεῖ (da) kann sich dann nur auf die Abfassung des Kolosserbriefes beziehen. ↩
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Philem. 10. ↩
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Ebd. 2. ↩
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Kol. 4, 17. ↩
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Kol. 2, 1. ↩
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Ebd. 2, 5. ↩
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1 Kor. 5, 3. ↩
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Ebd. 4, 19. ↩
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Gal. 4, 18. ↩