2. Cap. Von den vier Evangelien will Marcion nur das verstümmelte Evangelium des Lukas, dem auch der Titel fehlt, gelten lassen, als sei es das Evangelium des hl. Paulus. Man könnte sich auch hierbei damit begnügen, gegenüber den Schriften der eigentlichen und älteren Apostel demselben einfach alle Autorität abzusprechen.
S. 259 Das wäre kurz und bündig unsere Antwort auf die Antithesen. Ich gehe nun zum Nachweise in betreff des Evangeliums über, das freilich nicht mehr Judaistisch, sondern Pontisch, gegenwärtig verfälscht ist, um damit die Grundlage für die einzuhaltende Reihenfolge zu gewinnen. Wir stellen zuerst fest, dass die evangelische Urkunde zu Verfassern die Apostel habe, denen die Aufgabe, das Evangelium zu verbreiten, vom Herrn selbst auferlegt wurde. Wenn apostolische Männer darunter sind, so sind sie nicht bloss dieses, sondern auch Zeitgenossen und Nachfolger von Aposteln; denn die Predigt von blossen Schülern hätte in den Verdacht der Ruhmbegierde kommen können, wofern ihr nicht die Autorität ihrer Lehrmeister, ja, sogar Christi selbst, zur Seite stände, welch letzterer die Apostel zu Lehrern gemacht hat. So legen uns also aus der Zahl der Apostel Johannes und Paulus den Glauben vor; aus der Zahl der apostolischen Männer prägen ihn Lukas und Markus aufs neue ein, indem sie beide, mit derselben Glaubensregel beginnend, alles lehren, was sich auf den einen Schöpfergott, seinen Christus, der aus der Jungfrau geboren ist, und die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten bezieht. Wenn die Anordnung der Erzählungen verschieden ist, so schadet das nichts, wofern nur in betreff des Hauptstückes des Glaubens Übereinstimmung vorhanden ist. Mit Marcion ist aber keine vorhanden.
Marcion dagegen gibt von seinem Evangelium keinen Verfasser an, als ob er, dem es kein Frevel schien, das Ganze zu Grunde zu richten, nicht auch einen Titel hätte fingieren dürfen!? Ich könnte hierbei schon stehen bleiben und behaupten, ein Werk, welches keine Überschrift hat, keine Gewähr leistet und keine Zuverlässigkeit verspricht wegen mangelnden Titels und nötiger Angabe des Autors, sei gar nicht anzuerkennen. Allein wir wollen uns lieber alles erkämpfen und nichts übergehen, wie man aus unserer Arbeit ersehen kann. Von den Berichterstattern, die wir haben, scheint sich Marcion den Lukas ausersehen zu haben als den, welchen er ausbeuten will. Nun ist aber Lukas kein Apostel, sondern nur ein apostolischer Mann, kein Lehrer, sondern ein Schüler. Daher ist er natürlich geringer als sein Lehrer und jedenfalls um so viel später, als er Begleiter eines spätern Apostels war, nämlich ohne Zweifel des Paulus. Wenn daher Marcion auch sein Evangelium noch unter dem Namen des Paulus selber eingeführt hätte, so würde eine solche allein ohne die Unterstützung von Vorgängern dastehende Urkunde nicht glaubwürdig genug sein. Denn man müsste dann auch nach dem Evangelium fragen, welches Paulus vorgefunden, dem er Glauben geschenkt und dessen Übereinstimmung mit dem seinigen er gerühmt hat. Er reiste ja zu dem Ende nach Jerusalem hinauf, die Apostel kennen zu lernen und sie zu befragen, um ja nicht etwa umsonst zu laufen, d. h. anders zu glauben wie sie und das Evangelium nicht zu verkünden wie sie. Als er S. 260 sich mit den Gewährsmännern besprochen hatte und ihre Übereinstimmung in der Glaubensregel feststand, reichten sie sich die Hände, und von da an theilten sie sich die Missionsämter; jene nahmen das für die Juden, Paulus das für die Juden und Heiden. Wenn also der, welcher für Lukas selber die Quelle war, für seinen Glauben und seine Predigt die Autorität der Vorgänger begehrte, um wie viel mehr werde ich sie für Lukas fordern, wenn sie für seines Lehrers Evangelium nötig war.