11. Kapitel. Regel für die Erklärung der Tatsache, daß die Schrift den Sohn bald dem Vater gleich, bald dem Vater untergeordnet sein läßt.
22. Wenn wir also einmal jene Regel erkannt haben, nach welcher die Aussagen der Heiligen Schrift über den Sohn Gottes zu verstehen sind, und so zu unterscheiden vermögen zwischen dem, was in der Schrift nach der Gestalt Gottes klingt, in welcher der Sohn dem Vater gleich ist, und dem, was nach der Knechtsgestalt klingt, welche er annahm und in der er geringer ist als der Vater, dann werden wir durch die scheinbar einander entgegengesetzten und widersprechenden Lehren der heiligen Bücher nicht mehr beunruhigt werden. Denn hinsichtlich der Gottesgestalt ist dem Vater der Sohn und der Heilige Geist gleich, da keiner von ihnen ein Geschöpf ist, wie wir schon gezeigt haben; hinsichtlich S. 35 der Knechtsgestalt aber ist der Sohn geringer als der Vater, weil er selbst sagte: „Der Vater ist größer als ich.“1 Er ist aber auch geringer als er selbst, weil es heißt: „Er hat sich selbst erniedrigt;“2 ebenso ist er geringer als der Heilige Geist, weil er selbst sagte: „Was einer wider den Menschensohn redet, wird ihm vergeben werden; was einer aber wider den Heiligen Geist redet, wird ihm nicht vergeben werden.“3 Und in ihm wirkte er seine Machttaten, wie er versichert: „Wenn ich also im Heiligen Geiste Teufel austreibe, dann ist sicher das Reich Gottes zu euch gekommen.“4 Und bei Isaias sagt er — er hat diese Stelle selbst in der Synagoge vorgelesen und ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, daß sie in ihm in Erfüllung gegangen sei —: „Der Geist des Herrn ist über mir, den Armen die frohe Botschaft zu bringen hat er mich gesalbt, den Gefangenen Erlösung zu verkündigen“,5 und so weiter. Zu diesen Werken wurde er, wie er bezeugt, deshalb gesandt, weil der Geist des Herrn über ihm war. Hinsichtlich der Gottesgestalt ist alles durch ihn geworden,6 hinsichtlich der Knechtsgestalt ist er selbst geworden aus dem Weibe, unterworfen dem Gesetz.7 Nach der Gottesgestalt sind er und der Vater eins,8 nach der Knechtsgestalt kam er nicht, um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn sandte.9 Nach der Gottesgestalt „hat der Vater, wie er das Leben in sich selbst hat, so auch dem Sohne gegeben, das Leben in sich selber zu haben“.10 Nach der Knechtsgestalt „ist“ seine „Seele traurig bis zum Tode“.11 Nach ihr sagte er: „Vater, wenn es möglich ist, dann gehe dieser Kelch an mir vorüber.“12 Nach der Gottesgestalt „ist er wahrer Gott und das ewige Leben“.13 Nach der Knechtsgestalt „ist er gehorsam geworden bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuze“.14
S. 36 23. Nach der Gottesgestalt ist alles, was der Vater hat, sein;15 nach ihr sagt er: „All das Meinige ist dein, und das Deinige ist mein.“16 Nach der Knechtsgestalt ist seine Lehre nicht seine Lehre, sondern die Lehre dessen, der ihn sandte.17