2. Die Heilige Schrift muß nach der Überlieferung der katholischen Kirche erklärt werden.
[1] Eifrig also und angelegentlichst habe ich oft durch Heiligkeit und Gelehrsamkeit hervorragende Männer, soviele ich ihrer antraf, gefragt, wie ich auf einem sicheren und sozusagen allen zugänglichen und geraden Wege die Wahrheit des katholischen Glaubens von der Falschheit der häretischen Verkehrtheit zu unterscheiden vermöge. Ich erhielt dann jedesmal fast von allen die Antwort: wenn ich oder jeder andere die Betrügereien erstehender Irrlehrer aufdecken, ihre Fall stricke vermeiden und im rechten Glauben rein und un versehrt verharren wolle, so müsse ich auf doppelte Weise mit der Gnade Gottes meinen Glauben schützen, zunächst nämlich mittels der Autorität des göttlichen Gesetzes, sodann durch die Überlieferung der katholischen Kirche.
[2] Hier könnte jemand fragen: Warum muß sich mit der Norm der Schriften, da diese doch vollkommen ist und sich selbst zu allem überreichlich genügt, die Autorität der kirchlichen Einsicht verbinden? Deshalb, weil die Heilige Schrift wegen der ihr eigenen Tiefe nicht von allen in ein und demselben Sinne verstanden wird, ihre Aussprüche von den einzelnen verschieden erklärt werden und es deswegen den Anschein hat, es könnten fast so viele Meinungen aus ihr hergeleitet wer den, als es überhaupt Menschen gibt. Denn anders erklärt sie Novatian, anders Sabellius, anders Donatus1 , S. 165anders Arius, Eunomius und Macedonius, anders Photinus2 , Apollinaris und Priscillian, anders Jovinian, Pelagius und Cälestius3 , anders endlich Nestorius. Und darum ist es wegen der so vielen Winkelzüge mannigfaltigen Irrtums sehr notwendig, daß bei der Erklärung der prophetischen und apostolischen Schriften die Leine nach dem Maßstabe des kirchlichen und katholischen Sinnes gerichtet werde.
[3] Desgleichen ist in der katholischen Kirche selbst entschieden dafür Sorge zu tragen, daß wir das festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde; denn das ist im wahren und eigentlichen Sinne katholisch. Darauf weist schon die Bedeutung und der Sinn des Wortes4 hin, das alles in der Gesamtheit umfaßt. Dies wird aber nur dann geschehen, wenn wir der Allgemeinheit, dem Altertum und der Einstimmigkeit folgen; der Allgemeinheit aber werden wir folgen, wenn wir den Glauben allein als den wahren bekennen, den die ge samte Kirche auf dem Erdkreise bekennt; dem Alter tum aber dann, wenn wir von den Anschauungen in kei ner Weise abgehen, denen anerkanntermaßen unsere heiligen Vorfahren und Väter5 allgemein gehuldigt haben; der Einstimmigkeit dann, wenn wir innerhalb des Altertums selbst uns den Entscheidungen und Aus sprüchen aller oder fast aller Priester6 und Lehrer anschließen.
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Gemeint ist entweder Donatus, Bisohof von Casänigrä ia Numidien, welcher gegen den rechtmäßigen Bischof Cäcilian von Karthago den Gegenbischof Majorin weihte, oder Donatus der Große, der Nachfolger dieses Majorin. Von Donatus dem Gr. hat die donatistisehe Spaltung ihren Namen erhalten. ↩
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Er war Bischof von Sirmium, der Hauptstadt von Illyrien, und lehrte, Christus sei ein bloßer Mensch und nur Adoptivsohn Gottes; die Synode zu Sirmium 351 setzte ihn ab. ↩
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Er war Begleiter und Gesinnungsgenosse des Pelagius. ↩
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katho lisch ↩
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Väter (patres) wurden hervorragende Lehrer und Bischöfe der früheren Zeit genannt, die in der Gemeinschaft der katholischen Kirche bis an ihr Ende verblieben waren [vgl. unten c. 28/39.] ↩
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Unter „Priestern“ [sacerdotes] versteht Vinzenz gewöhnlich die Bischöfe. ↩