1. Vorrede
S. 162Die Schrift sagt und mahnt: Frage deine Väter und sie werden dir sagen, deine Ältesten und sie werden dir verkünden1 ; und wiederum: Den Worten der Weisen leihe dein Ohr2 ; und wiederum: Mein Sohn, meine Reden vergiß nicht, meine Worte aber bewahre dein Herz3 . Darum glaube ich, der geringste aller Diener Gottes, Peregrinus4 , daß es mit Hilfe Gottes nicht geringen Nutzen bringen wird, wenn ich das, was ich zuverlässig von den heiligen Vätern empfangen habe, schriftlich zusammenfasse. Es ist das wenigstens für meine eigene Schwäche sehr notwendig, da dann etwas zur Hand ist, womit der Schwäche meines Gedächtnisses bei fleißigem Lesen abgeholfen werden kann. Zu einem solchen Unternehmen mahnt mich aber nicht bloß der Nutzen des Werkes, sondern auch der Hinblick auf die Zeit und die Gunst des Ortes; die Zeit, weil von ihr alles Menschliche fortgerissen wird und daher auch wir ihr unsererseits etwas entnehmen müssen, was zum ewigen Leben dienlich ist, zumal da die schreckliche Erwartung des nahen göttlichen Gerichtes5 eine Steigerung des S. 163religiösen Eifers verlangt und die Arglist neuer Irrlehrer6 viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit angezeigt sein läßt; der Ort aber, weil wir, der Volksmenge und dem Getriebe der Städte entwichen, ein abgelegenes Gütchen und auf demselben eine stille Klosterzelle bewohnen, wo ohne viel Zerstreuung das geschehen kann, was man im Psalm singt: Haltet ein und erkennet, daß ich der Herr bin7 . Aber auch unser Lebensplan paßt dazu. Längere Zeit wurden wir von mannigfachen Unglücksstürmen des Weltdienstes hin- und hergeschleudert, bis wir uns endlich in den Hafen der Religion, der für alle immer der sicherste ist, mit Hilfe Christi geborgen haben, um dort, nachdem sich die Blähungen der Eitelkeit und des Stolzes gelegt haben, durch das Opfer der Demut Gott zu versöhnen und so nicht nur den Schiffbrüchigen des gegenwärtigen Lebens, sondern auch dem Brande der zukünftigen Welt entrinnen zu können.
Und nun will ich im Namen des Herrn an meine Aufgabe gehen, nämlich das von den Vorfahren Überlieferte und bei uns Hinterlegte aufzeichnen, mehr mit der Gewissenhaftigkeit eines Berichterstatters als mit dem Ansprüche eines Verfassers, jedoch unter Beobachtung der schriftstellerischen Form, daß ich keineswegs alles, sondern nur das Notwendige bringe und auch das nicht in gezierten und abgewogenen Worten, sondern in leichter und gewöhnlicher Gesprächsform, derart, daß das meiste mehr angedeutet als ausgeführt erscheint. Mögen diejenigen glänzend und abgemessen schreiben, die im Vertrauen auf ihr Talent oder von Amts wegen an diese Aufgabe herantreten. Mir aber soll es genügen, wenn ich zur Unterstützung meines Gedächtnisses oder besser meiner Vergeßlichkeit wegen für mich selbst ein Merkbüchlein8 schaffe, das ich jedoch durch Überdenken dessen, was ich gelernt habe, täglich mehr und mehr, so wie der Herr es gibt, zu verbessern und zu ergänzen suchen werde. Und das habe S. 164ich deshalb vorbemerkt, damit, wenn es vielleicht uns abhanden und in die Hände der Heiligen kommt9 , sie nichts in demselben vorschnell tadeln, wovon sie sehen, daß es noch durch Verbesserung, die ja auch ich zugesagt habe, gefeilt werden muß.
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Deut. 32, 7. ↩
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Sprichw. 22, 17. ↩
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Sprichw. 3, 1. ↩
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Pseudonym von Vinzenz ↩
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Die Erwartung des nahen "Weitendes war in den ersten Jahrhunderten der Kirche fast allgemein. Weil es im Psalm 89, 14 heißt: „Tausend Jahre sind vor dir wie der gestrige Tag" und weil Gott die Welt in sechs Tagen schuf, gab man dieser eine Dauer von 6000 Jahren, von denen nach den Zahlangaben der Septuaginta-Ubersetzung etwa 5500 vor Chr. verflossen waren [so Barnabas, Ep. c. 15; Irenaeus, Adv. haer. 5, 23, 2; Lactantius, Inst. 7, 14 und andere]. ↩
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Der Verfasser denkt an Nestorius und auch an die Gnadenlehre des hl. Augustinus, die er für häretisch, hält ↩
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Ps. 45, 11. ↩
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Commonitorium ↩
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Unter „Heiligen" sind hier Mönche oder Kleriker zu verstehen. ↩