Neunter Artikel. Die sieben Bitten des Vaterunsers werden zukömmlicherweise aufgezählt.
a) Dem steht entgegen: I. Unnütz ist, um die Heiligung von etwas zu beten, was bereits heilig ist. Der Name Gottes aber ist immer heilig, nach Luk. 1.: „Und heilig ist sein Name.“ Ferner ist das Reich Gottes ewig, nach Ps. 144.: „Dein Reich, o Herr, ist das Reich in alle Ewigkeit.“ Ebenso wird der Wille Gottes immer erfüllt, nach Isai. 46.: „All mein Wille wird geschehen.“ Also sind die drei ersten Bitten überflüssig. II. Vorher kommt das Vermeiden des Übels und dann erst das Erreichen des Guten. Unzukömmlich also ist es, zuerst die Bitten zu setzen, welche das Erreichen des Guten bezwecken; und dann jene, die das Vermeiden des Übels betreffen. III. Das vorzüglichste Geschenk Gottes ist der heilige Geist. Also passen die sieben Bitten nicht, weil sie nicht den sieben Gaben des heiligen Geistes entsprechen. IV. Nach Luk. 11. sind nur fünf Bitten im Vaterunser. Überflüssig also sind mindestens zwei. V. Unnnützerweise will man zuerst das Wohlwollen desjenigen gewinnen, der mit seinem Wohlwollen uns zuvorkommt. „Gott aber hat selbst uns zuerst geliebt,“ nach 1. Joh. 4. Also wird unzukömmlicherweise gesagt: „Vater unser, der Du bist im Himmel.“ Auf der anderen Seite steht die Autorität Christi.
b) Ich antworte, das Gebet des Herrn sei im höchsten Grade vollkommen; weil, „wenn wir recht und heilsam beten wollen, wir nichts Anderes sagen können als was im Vaterunser steht,“ wie Augustin schreibt. (ep. 130. ad Probam.) Denn um recht zu beten, muß man recht verlangen. Das Vaterunser aber enthält nicht nur das, was wir in rechter Weise verlangen können, sondern auch die rechte Ordnung, in welcher wir verlangen können; es unterrichtet uns sonach nicht nur im Beten, sondern regelt auch all unser Verlangen. Zuerst nun im Verlangen ist der Zweck, dann das Zweckdienliche.Unser Zweck aber ist Gott, 1. soweit wir die Herrlichkeit Gottes wollen; 2. soweit wir schauen wollen diese Herrlichkeit: Das Erste bezieht sich auf die Liebe zu Gott, in Sich selber betrachtet; das Zweite auf die Liebe, womit wir uns in Gott lieben. Deshalb ist die erste Bitte: „Geheiligt werde Dein Name“; die zweite: „Zukomme uns Dein Reich.“ An und für sich d. h. seinem inneren Wesen nach ist nun zweckdienlich das Nützliche; und zwar zuerst und unmittelbar ist nützlich zum Zwecke der Seligkeit das Verdienst, womit wir von Gott die Seligkeit verdienen, “ indem wir Ihm gehorchen; — dafür steht die dritte Bitte: „Dein Willegeschehe wie im Himmel so auch auf Erden.“ Mittelbar und an zweiter Stelle ist uns dann nützlich, was mithilft zum Verdienst in der Weise eines Werkzeuges; — dafür steht die vierte Bitte: „Unser tägliches Brot gieb uns heute,“ sei dies verstanden vom sakramentalen Brote der heiligen Eucharistie, wo dann die anderen Sakramente miteingeschlossen sind; oder vom leiblichen Brote, womit dann überhaupt der notwendige Lebensunterhalt ausgedrückt erscheint (Aug. l. c.); die Eucharistie nämlich ist das vorzüglichste Sakrament und das Brot die vorzüglichste Nahrung, weshalb bei Matth. steht: „Unser über alle andere Substanz erhabenes“, d. h. nach Hieronymus sup. 6. Matth.: „Unser vorzügliches Brot“. Nicht an und für sich oder dem inneren Wesen nach ist nützlich um uns zur Seligkeit hinzulenken, das, was Hindernisse entfernt. Dreierlei aber hält uns ab von der Seligkeit: 1. die Sünde, welche direkt vom Himmelreiche ausschließt, nach 1. Kor. 6.: „Weder Unkeusche noch Götzendiener etc. werden das Reich Gottes besitzen;“ und darauf nimmt Bezug die fünfte Bitte: „Vergieb uns unsere Sünden;“ — 2. die Versuchung, die uns von der Beobachtung des göttlichen Willens zurückhält; und mit Bezug darauf steht die sechste Bitte: „Und führ' uns nicht in Versuchung,“ womit wir nicht bitten, daß wir keine Versuchung haben, sondern daß wir von der Versuchung nicht überwunden werden, was da ist: in die Versuchung hineingeführt werden; — 3. das gegenwärtige Elend, welche als Strafe über uns verhängt ist; und mit Bezug darauf wird gebet „Befreie uns vom Übel.“
c) I. Mit der ersten Bitte flehen wir nicht (Aug. l. c.), daß der Name Gottes heilig sei, als ob er dies nicht wäre, sondern daß er als ein heiliger von den Menschen erachtet werde; was auf die Verbreitung der Ehre Gottes unter den Menschen sich bezieht. Und ebenso soll in der zweiten Bitte nicht gesagt werden, als ob Gott jetzt nicht herrsche, sondern „daß dieses Reich zu uns kommen solle und wir in Ihm herrschen. (Aug. I. c.) In der dritten Bitte aber wird gefleht, daß wir dem Willen Gottes gehorchen, wie die Engel im Himmel gehorchen. Diese drei Bitten also werden vollkommen erfüllt werden im zukünftigen Leben; die anderen vier erstrecken sich auf die Bedürfnisse des gegenwärtigen Lebens, wie Enchiridion c. 115. Augustin sagt. II. Da das Gebet dem Verlangen als Erklärung dient, entspricht Ordnung unter den Bitten nicht der Ordnung in der Ausführung, sondern der im Verlangen oder in der Absicht; wo der Zweck zuerst kommt, dann das Zweckdienliche und schließlich die Entfernung des Übels als des Hindernisses III. Augustinus schreibt (2. de serrm Dom. in monte c. 11.): „Wenn es die Furcht Gottes ist, wodurch selig sind die armen im Geiste, so beten wir, daß durch keusche Furcht der Name Gottes unter den Mensche geheiligt werde. Wenn die Hingebung es ist, wodurch selig sind die sanftmütigen, so beten wir, daß sein Reich komme, daß wir sanft werden und Ihm nicht widerstehen. Wenn die Wissenschaft es ist, wodurch selig sind die traurigen, so flehen wir, daß sein Wille geschehe und so werden wir nicht trauern. Wenn es die Stärke ist, wodurch selig sind die da hungern, so beten wir, daß unser tägliches Brot uns werde. Wenn es die Gabe des Rates ist, wodurch selig sind die barmherzigen, so vergeben wir unseren Schuldigern, damit unsere Schulden uns vergeben werden. Wenn es die Gabe de Verständnisses ist, wodurch selig sind die reinen Herzens, so beten wir, daß wir nicht ein doppeltes Herz haben, indem wir zeitlichen Gütern nachfolgen, derentwillen Versuchungen in uns entstehen. Wenn es die Weisheit ist, wodurch selig sind die friedfertigen, weil sie Kinder Gottes werden genannt werden, so beten wir, damit wir vom Übel befreit werden; denn diese Befreiung wird uns zu wirklich freien Kindern Gottes machen.“ IV. Nach Augustin (l. c. c. 116.) „hat Lukas anstatt sieben fünf Bitten, weil er dadurch zeigt, die dritte Bitte sei gewissermaßen eine Wiederholung der zwei ersten und er gerade durch das Auslassen dieser dritten ihr Verständnis erleichtert.“ Denn dahin geht vorzugsweise der Wille Gottes, daß wir seine Heiligkeit erkennen und mit Ihm herrschen. Die letzte Bitte hat Lukas nicht, damit wir wissen, darin sei jeder vom Übel befreit, daß von der Versuchung nicht überwunden werde. V. Wir beten zu Gott, nicht um seinen Willen zu beugen, sondern um in uns Vertrauen zu erwecken; und das geschieht durch die Betrachtung seiner Liebe, indem wir Ihn „Vater“ nennen, und durch die Betrachtung seiner Erhabenheit, indem wir sagen: „Der Du bist im Himmel.“