Fünfter Artikel. Die untergebenen sind nicht gehalten, ihren Vorgesetzten in Allem zu gehorchen.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. Koloss. 3. sagt Paulus: „Ihr Kinder, gehorchet den Eltern in Allem… ihr Knechte, gehorchet in Allem eueren irdischen Herren.“ Dasselbe gilt von anderen Vorgesetzten. II. Die Vorgesetzten stehen in der Mitte zwischen Gott und den untergebenen, nach Deut. 5.: „Ich war Verwalter und Mittler zwischen Gott und euch zu jener Zeit, da ich euch seine Worte verkünde.“ Von dem einen äußersten Punkte aber kommt man zum anderen nur durch die dazwischenliegenden Punkte. Also muß man die Vorschriften der Vorgesetzten wie die Gottes erachten; weshalb Paulus sagt (Gal. 4.): „Wie einen Engel Gottes habt ihr mich aufgenommen, wie Jesum Christum;“ und ebenso 1. Thess. 2, 13. Also muß man den Vorgesetzten wie Gott in Allem gehorchen. III. Wie Keuschheit und Armut, so gelobt der Ordensmann Gehorsam. Er muß aber in Allem Keuschheit und Armut beobachten; also auch Gehorsam. Auf der anderen Seite heißt es Act. 5.: „Gott muß man mehr gehorchen wie den Menschen.“ Also braucht man den Vorgesetzten nicht in Allem zu gehorchen.
b) Ich antworte; der gehorsame wird vom Befehle des Vorgesetzten bestimmt und bewegt mit einer gewissen Notwendigkeit, wie sie der Gerechtigkeit zueignet; wie ein Ding der Natur vermöge der ihm entsprechenden Kraft in Bewegung gesetzt wird durch natürliche Notwendigkeit. Daß aber ein solches Ding in der Natur der entsprechenden bewegenden Kraft nicht folgt und somit nicht bewegt wird, kann kommen 1. von einem Hindernisse, welches von der stärkeren Kraft eines anderen Bewegers herrührt; wie z. B. Holz vom Feuer nicht verbrannt wird, wenn die Kraft des Wassers stärker ist, die dies hindert; — 2. von einem Mangel der Beziehung des Beweglichen zum Beweger, insofern dasselbe wohl nach einer Seite hin der Kraft des letzteren unterliegt, aber nicht nach allen Seiten hin; wie z. B. die Feuchtigkeit bisweilen dem thätigen Einflüsse der Wärme unterliegt nach der Seite des Warmwerdens hin, nicht aber um trocken oder aufgezehrt zu werden. Ähnlich nun kann es geschehen, daß ein untergebener seinem Oberen zu gehorchen nicht verpflichtet ist: 1. wegen der Vorschrift einer höheren Gewalt; wie Augustin sagt (6. de verb. Dom. 8.): „Wenn der Stadtvorsteher etwas befiehlt gegen den Willen des Vorgesetzten der Provinz; mußt du es dann thun? Oder wenn letzterer befiehlt gegen den Willen des Kaisers; mußt du es dann thun? Also wenn Gott etwas Anderes befiehlt und etwas Anderes der Kaiser; verachte das Gebot des Kaisers und thue das Gebot Gottes!“ — 2. in dem, worin der untergebene nicht der Gewalt des betreffenden Oberen unterliegt. Diesbezüglich sagt Seneca (3. de benefic. 20.): „Es irrt, wer meint, der ganze Mensch werde Knecht; der bessere Teil ist davon ausgenommen; — der Körper mag dem Herrn zu Willen sein, der Geist ist Herr seiner selbst.“ Also in seiner inneren Willensbewegung ist der Mensch an den Willen des Mitmenschen nicht gebunden, sondern nur an den Willen Gottes. In dem aber, was durch den Körper sich vollzieht oder gethätigt wird, muß der Mensch dem Menschen gehorchen. Aber auch hier nicht in dem, was zur Natur des Körpers gehört; da hat er nur Gott zu gehorchen. Denn darin sind alle Menschen gleich; z. B. was den Lebensunterhalt anbelangt oder die Erzeugung von Nachkommen. Soweit es also auf eine Eheschließung ankommt oder auf die Bewahrung der Jungfrauschaft oder auf Derartiges haben die Kinder den Eltern, die Dienstleute den Herrschaften nicht zu gehorchen. Wenn aber etwas zur Verfügung über die äußere Thätigkeit und der damit verbundenen Dinge gehört, so muß der untergebene seinem Vorgesetzten gehorchen gemäß dem Grade der Vorsteherschaft; wie z. B. im Bereiche des Kriegerischen der Soldat dem Heerführer gehorchen muß, im Bereiche der knechtischen Arbeiten der Knecht dem Herrn, im Bereiche der Erziehung und der Verwaltung des Hauswesens das Kind dem Vater u. s. w.
c) I. „In Allem“ heißt: soweit das Recht des Vorstehers sich erstreckt. II. Gott ist der Mensch mit seinem Innern und Äußern unterworfen; also muß er Ihm in Allem gehorchen. Den Vorgesetzten aber ist der Mensch unterworfen nur mit Rücksicht auf einiges ganz Bestimmte; und mit Bezug darauf sind sie vermittelnd zwischen Gott und den untergebenen. Mit Rücksicht auf das Andere sind letztere unmittelbar Gotl unterworfen und werden durch das Natur- oder das geschriebene Gesetz unterrichtet. III. Gehorsam geloben die Ordensleute mit Rücksicht auf die Beobachtung der Regel; und also nur mit Rücksicht darauf sind sie zum Gehorsame verpflichtet, was zum Ordensleben gemäß der Regel gehören kann; dieser Gehorsam genügt zum Heile. Wollen sie auch in Anderem gehorchen, so gehört dies zu höherer Vollkommenheit, vorausgesetzt daß nichts gegen Gott oder gegen die Regel geboten wird. So kann also ein dreifacher Gehorsam unterschieden werden: 1. einer, der zum Heile genügt; dem nämlich, wozu jemand verpflichtet ist; — 2. ein anderer, der vollkommen ist und wo man gehorcht in Allem, was erlaubt ist; — 3. ein anderer unvollkommener, wo man auch im Unerlaubten gehorcht.